ENTSEELT
war klar, dass jeder Stein in dieser Mauer auf eine seltsame, bedeutsame Weise gekennzeichnet sein würde.
Die jüngere der Frauen öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber ihre Freundin kam ihrer Frage zuvor: »Sein Name? Er hat seinen Namen und seine Lebensdaten hineingemeißelt, soweit er die kennt. So wie all die anderen Namen und Daten, die dort eingemeißelt sind. So wie es all die anderen getan haben, die dort vor ihm hochgeklettert sind. Dieser grob behauene Stein ist sein Grabstein, und das Mahnmal ist so etwas wie ein Friedhof.«
Der junge Zigeuner legte seinen Kopf in den Nacken und sah auf, hoch in die Berge. Er blieb lange Zeit starr so stehen, als wartete er auf etwas. Und hoch oben in dem graublauen Himmel schob sich ein kleiner dunkler Wolkenfetzen vor die Sonne.
Da zuckte die ältere der beiden Frauen zusammen. Sie selbst war beinahe hypnotisiert worden; sie war willenlos stehen geblieben. Aber als sich die Sonne verdunkelte und alles in Schatten legte, ergriff sie den Ellbogen der anderen und wandte sich ab. »Komm«, keuchte sie, plötzlich atemlos, »lass uns von hier verschwinden. Unsere Männer werden sich schon Sorgen machen. Vor allem, wenn sie wissen, dass die Zigeuner in der Nähe sind.«
Sie hasteten unter den schattigen Baumkronen entlang, fanden ihren Weg, und nach kurzer Zeit sahen sie die ersten hölzernen Häuser am Rand von Halmagiu, wo der Wald sich ausdünnte und endete. Aber als sie unter den Bäumen hervor auf die staubige Straße traten und ihr Herzschlag sich ein wenig beruhigt hatte, hörten sie ein Geräusch in ihrem Rücken, über ihnen und weit, weit weg.
Es war noch nicht einmal Mittag in Halmagiu; die Sonne kam gerade hinter einer kleinen, vereinzelten Wolke hervor; bis zum Winteranfang würden noch sechs oder sieben Wochen vergehen – aber jede Seele, die diesen Laut hörte, betrachtete ihn als ein Omen des nahenden Winters. Und einige sahen noch viel mehr darin.
Es war die klagende Stimme eines Wolfes, die von den Bergen herunterhallte, und die jaulte, wie Wölfe seit Jahrtausenden und mehr heulen. Die beiden Frauen hielten inne, umklammerten ihre Körbe, hielten den Atem an und lauschten. »Er bekommt keine Antwort«, sagte die Jüngere schließlich. »Er ist allein, dieser alte Wolf.«
»Jetzt noch«, nickte die andere. »Ja, er ist allein. Aber er ist gehört worden, darauf kannst du dich verlassen. Und er wird seine Antwort bekommen, sehr bald. Und dann ...« Sie schüttelte den Kopf und eilte davon.
Die andere holte sie ein. »Was ist dann?«, wollte sie wissen.
Die Ältere sah sie an, blickte finster und blaffte schließlich: »Du musst lernen zuzuhören, Anna! Es gibt Dinge, über die reden wir hier nicht oft. Wenn du also etwas lernen willst, dann musst du gut zuhören, wenn darüber geredet wird!«
»Ich habe schon zugehört«, gab ihre Freundin zurück. »Ich habe es nur nicht verstanden, das ist alles. Du hast gesagt, der alte Wolf werde bald seine Antwort bekommen. Und ... was ist dann?«
»Ja, dann«, sagte die Ältere und wandte sich ihrer Haustür zu, von deren Rahmen Knoblauchzöpfe hingen und in der Sonne trockneten. Über die Schulter hinweg antwortete sie dann doch noch: »Und dann, am nächsten Morgen, sind die Szgany verschwunden! Da ist keine Spur mehr von ihnen außer der Asche ihres Lagerfeuers und die Abdrücke ihrer Wagenräder. Aber sie sind dann einer weniger. Einer hat einem uralten Ruf gehorcht und ist zurückgeblieben.«
Der Mund der jüngeren Frau formte ein lautloses »O«.
»Ja«, nickte ihre Freundin. »Du hast ihn vorhin gesehen – wie er seinen Namen zu denen der anderen armen Seelen hinzugefügt hat, die da oben in dem Mahnmal auf dem Felsen stehen ...«
In dieser Nacht, im Lager der Zigeuner
Die Mädchen tanzten und wirbelten herum zum Gekreisch der schrillen Fiedeln und dem uralten Schellen und Klirren der Tamburine. Eine lange Tafel bog sich unter der Last der Speisen: Kaninchenkeulen und ganze Igel, die noch von der Hitze der Erdöfen dampften, in denen sie gebacken worden waren; Wildschweinwürste in dünnen Scheiben, Käse, der in Halmagiu gekauft oder eingetauscht worden war, Früchte und Nüsse, Zwiebeln, die in Bratensoße schmorten; Zigeunerwein und scharfer, beißender Schnaps aus wilden Pflaumen.
Sie feierten ein Fest. Die Flammen des gewaltigen Feuers in der Mitte spiegelten sich in der Musik und die Tänzer waren grazil und sinnlich. Der Alkohol floss in Strömen. Einige der jüngeren Zigeuner tranken
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