ENTSEELT
Stärke des Körpers ist das Blut. Dein Blut ist stark, mein Sohn, wie bei allen Männern deiner Sippe.
Der große Wolf knurrte wieder, und Dumitru stolperte hinter ihm her. Der Junge wusste, er sollte vor diesem Ort fliehen, sollte davonlaufen und selbst dann noch weiterkriechen, wenn er sich im Dunkeln die Knochen brach ... alles, nur nicht weitergehen. Und doch war er machtlos gegen das Locken dieser uralten, perfiden Stimme. Es war, als hätte er ein Versprechen gegeben, das er nicht brechen konnte, oder als müsste er das unverbrüchliche Versprechen eines lange verstorbenen ehrwürdigen Vorfahren einlösen.
Und jetzt, geleitet von der Stimme in seinem Kopf, stolperte er an umgestürzten Säulen vorbei auf der Suche nach einer bestimmten Stelle; er ließ sich auf alle viere nieder, schaufelte das frisch gefallene Laub, feuchtes graues Moos und schwarze Felsstücke zur Seite und grub geleitet von der Stimme eine flache Steinplatte mit einem eisernen Ring aus, die sich leicht anheben ließ. Abgestandene Luft strömte ihm entgegen, drängte sich in seine Lungen und ließ ihn noch mehr schwindeln, während er über dem stinkenden tiefschwarzen Abgrund hockte. Und als er wieder einen freien Kopf bekam – wenigstens was die Dämpfe betraf – war er schon dabei, in diese schrecklichen Tiefen hinabzusteigen.
Die Stimme sprach weiter zu ihm: Da, sieh, mein Sohn ... eine Nische in der Wand ... da sind Fackeln in einem Bündel und Streichhölzer, die in Pergament eingewickelt sind ... ja, die sind besser als die Feuersteine aus meiner Jugend ... entzünde eine Fackel und nimm zwei weitere mit ... du wirst sie brauchen, Dumiiitruuu ...
Die steinerne Treppe führte spiralförmig nach unten; Dumitru stieg salpeterfleckige Stufen hinab und musste an einigen Stellen klettern, wo die Treppe zusammengebrochen war. Er gelangte in ein Kellergeschoss, auf dessen unebenem Boden feuergeschwärzte Mauersteine verstreut lagen. Eine zweite Falltür führte ihn weiter hinunter durch feuchte, hallende Gänge im Inneren der Erde. Tiefer, immer tiefer hinab, in die bösartigen, beseelten Unterwelten ...
Gut gemacht, Dumiiitruuu, beglückwünschte ihn schließlich die dunkle Stimme, die nun ein monströses, unsichtbares Lächeln ausstrahlte. Die Zufriedenheit, die in dieser Stimme lag, schabte wie eine Reibe über die Nervenenden im Hirn des jungen Mannes.
Und plötzlich kam ein Augenblick, in dem Dumitru hätte fliehen können. Für den Bruchteil einer Sekunde war er wieder Herr seiner selbst und wusste, dass er an der Schwelle zur Hölle stand!
Aber dann schloss sich die fremdartige Intelligenz wieder wie ein Schraubstock um seinen Verstand; der unaufhaltsame Prozess, der fünf Wochen zuvor begonnen hatte, lief jetzt seinem logischen Ende entgegen; der Hauch freien Willens flackerte wie eine verglimmende Kerze in ihm, beinahe erloschen.
Sieh dich um, Dumiiitruuu. Sieh und erfasse die Werke und Mysterien deines Meisters, mein Sohn.
Hinter Dumitru, auf einem steinernen Vorsprung, stand der Wolf mit den flammenden Augen. Und vor ihm – lag die Werkstatt eines Nekromanten!
Dies gehörte zu den Legenden der Szgany, zu den Geschichten, die man sich am Lagerfeuer zu bestimmten Zeiten erzählte. Aber Dumitru brauchte so wenig wie jeder andere, der das hier gesehen hätte, eine Erklärung oder ein spezielles Wissen, um alles zu verstehen. Die eigene Vorstellungskraft, der eigene Instinkt, reichte dazu vollkommen aus. Und mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund, die Fackel hoch erhoben, durchwanderte der Junge auf zittrigen Beinen die wohlsortierten Überbleibsel und Relikte von Chaos und Wahnsinn.
Es war nicht das Chaos der oberen Ebenen, das durch die Gewalt der Natur erzeugt worden war. In diese geheimen Kavernen war die Zerstörung von oben nicht vorgedrungen. Diese Höhlen waren erhalten geblieben, unberührt unter dem Staub und den Spinnweben eines halben Jahrhunderts. Dies hier erzeugte ein Chaos im Verstand, man wusste, dass es das Werk eines Mannes oder mehrerer Männer war – oder, wenn man wieder zu den Legenden und Mythen der Szgany zurückkehrte, das Werk von Kreaturen, die sich als solche tarnten.
Die Mauern des Gewölbes waren uralt, fast vorzeitlich. Sie waren salpeterfleckig, wirkten aber auf den ersten Blick nicht feucht, obwohl an einigen Stellen das Mauerwerk zur Tropfsteinbildung neigte. Zerbrechliche Stalaktiten hingen von den hohen Gewölben herab; und in den Ecken, wo der Boden nicht so häufig begangen
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