ENTSEELT
entgegen. Harry, warum antwortest du mir denn nicht?
Der alte Traum entschwand und wurde von einem neuen abgelöst. Harry warf sich in seinem Bett herum und schwitzte und verschickte zittrige Gedanken in der Sprache der Toten hinaus ins Dunkel der Nacht.
Nein, nein, Harry, erklang Sandras drängende mentale Stimme. Du brauchst mich nicht so anzusprechen, denn ich bin nicht tot. Vielleicht wäre es besser, wenn ich tot wäre, aber ich bin es nicht. Sieh mich jetzt nur an, Harry, sieh mich an!
In seinem letzten Traum hatte er die Augen fest zugekniffen. Jetzt zwang er sich dazu, sie wieder zu öffnen, und versuchte, die seltsame Szenerie zu begreifen, die sich seinem Blick eröffnete. Das Bild war unheimlich und hätte aus einem Schauerroman stammen können, und doch kannte Harry die Leute darin sehr gut: Sandra, die hin und her tigerte, die Hände rang und ihr Haar zerraufte. Und Ken Layard, der über einen Holztisch gebeugt saß, seltsam schief und schlaff, mit dem Kopf zwischen den langfingrigen Händen und dem Blick fiebrig nach innen gerichtet, in die unergründlichen Tiefen des eigenen Verstandes. Sandra, die Telepathin, und Ken Layard, der Lokalisierer. Einst seine Freunde und jetzt Janos’ Kreaturen.
Waren sie das wirklich? Hatten sie keinerlei freien Willen mehr?
Harry war körperlos, unstofflich. Er wusste es sofort, er kannte dieses Gefühl des Nicht-Seins, das sein Schicksal gewesen war in den Zeiten zwischen dem Tod des physischen Harry Keogh und der Verschmelzung seines Verstandes mit dem hirntoten Alec Kyle. Er war nicht in fleischlicher Gestalt anwesend, sondern nur geistig. Unglaublich, sogar unmöglich außerhalb der Sphäre eines Traumes oder unter Zuhilfenahme des metaphysischen Möbius-Kontinuums. Und doch wusste Harry mit seinen Instinkten als Necroscope, dass dies mehr als nur ein Traum war.
Er musterte seine Umgebung.
Ein großes Schlafgemach mit einem ausladenden Himmelbett in einem Alkoven, der in die massive Felsmauer gemeißelt war. Abgesehen davon enthielt der Raum noch eine niedrige Schlafstelle mit einer Strohmatratze und schimmeligen Decken, breite hölzerne Stühle und einen grob behauenen Tisch, eine gewaltige Feuerstelle, einen rußgeschwärzten Kamin und uralte Wandteppiche, die an den nackten Steinwänden vor sich hin moderten. Es gab keine Fenster und nur eine Tür aus massiver Eiche mit eisernen Beschlägen. Die Tür war verschlossen und besaß weder Knauf noch Klinke; Harry vermutete, dass sie von der anderen Seite verschlossen und verriegelt sein würde.
Das einzige Licht kam von ein paar Kerzenstummeln, die mit Wachs auf den Tisch geklebt waren, an dem Layard in seine Gedanken versunken saß. Sie erhellten flackernd ein gotisches Gewölbe, zwischen dessen gewaltigen Deckenblöcken sich Salpeter-Kristalle im Mörtel gebildet hatten. Der Boden bestand aus Steinplatten. Die ganze Atmosphäre war kalt und wenig einladend. Über allem schwebte die Drohung des Kerkers. Wenn es kein Kerker war, dann kam es dem doch sehr nahe.
Ein Kerker in dem zerstörten Schloss des Ferenczy.
»Harry?« Sandras Stimme war ein heiseres, furchtsames Flüstern, gedämpft aus Angst, jemanden auf sich aufmerksam zu machen. Sie blieb stehen und schlang die Arme um sich, als ein unwillkürlicher Schauder des Schreckens – und dann der plötzlichen Erkenntnis – ihren Körper durchfuhr. Der Mund blieb ihr offen stehen und sie richtete ihr Gesicht nach vorn, sah ins Nichts hinein. »Harry ... bist du das?«
Ken Layard sah sofort auf und sagte: »Hast du ihn?« Sein Gesicht war hager, verzerrt durch unerträgliche Qual. Auf seiner Stirn glitzerte kalter Schweiß. Aber als er sprach, begann die Szene zu verschwimmen, und Harry musste sich ohne sein eigenes Zutun zurückziehen.
»Er darf dir nicht entgleiten!«, zischte Sandra. Sie rannte zum Tisch, nahm Layards Kopf in ihre Hände und fügte ihren Willen zu seinem hinzu, um ihn bei der paranormalen Anstrengung, die er gerade unternahm, zu unterstützen. Und der Raum verfestigte sich wieder vor Harrys Augen, und jetzt verstand der körperlose Necroscope.
Sie waren noch nicht völlig dem Willen von Janos unterworfen. Sie gehörten ihm zwar, aber er musste immer noch ein Auge auf sie haben und sie einschließen, wenn er gerade nicht da war ... so wie jetzt. Und weil sie wussten, dass sie als untote Vampire völlig seinem Willen unterworfen sein würden, hatten sie ihre übersinnlichen Fähigkeiten in diesem letzten Akt des Widerstandes vereint,
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