ENTSEELT
angestammter Weg, lange bevor es Grenzübergänge oder auch nur Wegweiser gegeben hat. Glaubst du, die würden es wagen, eine Beerdigung aufzuhalten? Und dabei das Risiko einzugehen, den Fluch der Zigeuner auf sich zu laden?«
Harry nickte und lächelte. »Der alte Trick mit dem Zigeunerfluch ist für so manches gut, nicht wahr?«
Aber der andere lächelte kein bisschen. »Er funktioniert«, sagte er gelassen.
Harry sah sich um, akzeptierte erneut die Flasche und nahm einen langen Zug. Ihm war bewusst, dass die anderen Zigeuner ihn ebenfalls beobachteten, wenn auch verhalten, während sie das Lager aufschlugen. Er spürte die Spannung, die dort herrschte und war hin und her gerissen. Es schien Harry, als habe er einen Weg über die Grenze gefunden. Er hätte sogar geschworen, dass die Zigeuner ihn freudig über die Grenze schmuggeln würden, ob er mit wollte oder nicht.
Das Seltsame war, dass er keinen Zorn auf den Mann neben sich verspürte, auf diese Männer, von denen er jetzt wusste, dass sie vielleicht teilweise tatsächlich zufällig hier waren, in erster Linie aber versuchen sollten, ihm eine Falle zu stellen. Er hatte keinerlei Angst vor ihnen; er fürchtete sich bei ihnen sogar weniger als zu fast allen anderen Zeiten in seinem Leben. Ihm stellte sich jetzt nur die Frage, ob er beiläufig, sogar passiv, ihre Falle akzeptieren oder versuchen sollte, aus dem Lager zu entkommen. Sollte er Anspielungen auf seine Situation machen und seinen Verdacht augenfällig werden lassen, oder sollte er weiter den Ahnungslosen spielen? Anders gesagt: Wäre es besser, sich in sein Schicksal zu fügen, oder sollte er Widerstand leisten und dabei vielleicht verletzt werden?
Eines war deutlich: Janos wollte ihn lebend – Mann gegen Mann, von Angesicht zu Angesicht –, und das bedeutete, dass die Zigeuner ihn auf keinen Fall ernsthaft verletzen würden. Jetzt, wo er am Haken hing, war es vielleicht besser, sich zurückzulehnen und zu warten, dass das Monster die Leine einzog. Wenigstens zunächst einmal.
... w enn er seine gewaltigen Kiefer aufsperrt, um dich zu verschlingen, spaziere durch sie hinein, denn von Innen ist er verwundbarer!
Habe ich das gedacht? Harry benutzte die Sprache der Toten, oder warst du das wieder, Faethor?
Vielleicht waren wir das beide. Eine gurgelnde Stimme klang von tief unten herauf.
Harry nickte, wenn auch nur zu sich selbst. Du warst es also. Na gut, spielen wir auf deine Art.
Das ist auch besser so! Glaub es mir, dein – unser? – Blatt ist gar nicht schlecht.
»Meinst du, ich könnte hier eine Weile ausruhen?«, fragte Harry den Zigeuner, während sie unter dem Baum saßen. »Es ist hier sehr friedlich. Ich sitze auch einfach nur unter dem Baum, studiere meine Karte und plane den Rest meiner Reise.« Er nahm noch einen letzten Schluck von dem Slibowitz.
»Warum nicht?«, antwortete der andere. »Du kannst dir sicher sein, dass dir nichts geschehen wird – nicht hier.«
Harry streckte sich aus, legte den Kopf auf seine Reisetasche und vertiefte sich in die Karte. Halmagiu war vielleicht noch hundert Kilometer weit weg. Die Sonne hatte gerade ihren Zenit überschritten, es war eine Stunde nach Mittag. Wenn die Zigeuner um zwei Uhr wieder aufbrachen und mit durchschnittlich zehn Stundenkilometern weiterfuhren, dann wären sie gegen Mitternacht in Halmagiu. Und Harry mit ihnen. Er hatte nicht die leiseste Idee, wie sie das anstellen würden, aber er war sich ziemlich sicher, dass sie einen Weg finden würden, ihn über die Grenze zu schmuggeln. So sicher, wie er das Zeichen der rotäugigen Fledermaus gesehen hatte, die sich aus der Urne erhob, die in die Holzschnitzereien des königlichen Leichenwagens gemalt war.
Er schloss die Augen und richtete seine Gedanken nach innen, an Faethor. Ich glaube, ich habe Janos Angst eingejagt, als ich gedroht habe, in seinen Verstand einzudringen.
Das war wirklich kühn. Der Vampir antwortete sofort. Ein schlauer Bluff. Aber du hast einen Fehler begangen und sehr viel Glück gehabt, dass es funktioniert hat.
Ich bin nur deinen Ratschlägen gefolgt!
Dann habe ich mich offenbar nicht klar ausgedrückt, sagte Faethor. Ich meinte nur, dass dein Verstand deine Feste ist, und wenn er versucht, in sie einzudringen, musst du seine Gründe dafür herausfinden. Du musst in seinen Verstand sehen und herausfinden, wie dieser arbeitet. Ich habe nicht gemeint, dass du tatsächlich in seinen Verstand eindringen sollst! Das wäre auch unmöglich. Du bist kein
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