ENTSEELT
Bett!«
Jordan sah mittlerweile nicht mehr so leidend aus und fühlte sich auch besser; die Sonnenbrille tat ihm gut. Der Kellner kam mit frischem Kaffee, und Layard schenkte ein. Jordan beobachtete sein resolutes Verhalten und dachte: Wie ein großer Bruder. Er sorgt für mich, als wäre ich ein kleiner Hosenscheißer! Gott sei Dank hat er das immer schon gemacht!
Layard war ein Lokalisierer, ein Hellseher ohne Kristallkugel. Er brauchte auch keine; eine Landkarte reichte ihm, oder eine ungefähre Ahnung, wo sein Ziel zu erwarten war. Er war ein Jahr älter als Jordan, brachte es auf stämmige 1,75 Meter, hatte ein eckiges Gesicht, dunkles Haar und dunkle Haut und ausdrucksstarke, agile Augenbrauen und Mundwinkel. Unter der Stirn, in die sich im Lauf der Jahre die Konzentrationsfalten eingegraben hatten, waren die Augen sehr flink und, wie sich das für jemanden mit seiner Gabe gehörte, weitsichtig. Sie waren von einem so dunklen Braun, dass man sie schon fast als schwarz bezeichnen konnte.
Während er im Schutz der Brillengläser Layard musterte, wanderten Jordans Gedanken zwölf Jahre zurück nach Harkley House in Devon, im Südosten von England, wo er und der Lokalisierer zum ersten Mal zusammengearbeitet hatten. Damals wie heute waren sie Mitarbeiter des E-Dezernats, der geheimsten aller Geheimdienstabteilungen, von deren Existenz nur eine Handvoll Leute wusste. Aber im Gegensatz zu heute war ihr Auftrag alles andere als alltäglich gewesen. In der Angelegenheit Julian Bodescu war gar nichts alltäglich gewesen.
Erinnerungen, die er mehr als ein Jahrzehnt lang erfolgreich unterdrückt hatte, kamen jetzt wieder hoch, so lebendig, als wäre es erst gestern gewesen. Erneut hielt er die Armbrust in den Händen, in Brusthöhe und direkt voraus gerichtet, während er dem Plätschern laufenden Wassers und der Stimme des Mädchens lauschte, die auf der anderen Seite der geschlossenen Tür eine tonlose Melodie vor sich hin summte. Er hatte sich gefragt, ob das eine Falle sei. Und dann ...
Er trat die Tür zu der Duschkabine auf – und erstarrte zur Salzsäule! Helen Lake, Julian Bodescus Cousine, war atemberaubend schön und splitternackt. Sie drehte ihm die Seite zu, und ihr Körper glänzte im herabströmenden Wasser. Sie riss den Kopf herum und starrte Jordan an, die Augen vor Angst weit aufgerissen, während sie sich gegen die Rückwand der Duschkabine drückte. Ihre Knie gaben unter ihr nach, und ihre Augenlider flatterten.
»Das ist doch nur ein verängstigtes Mädchen!«, sagte er sich – einen Moment, bevor ihre Gedanken seinen telepathischen Verstand erreichten: Komm her, mein Liebling!, dachte sie. Ja, greif zu, halt mich fest! Nur noch ein bisschen näher, mein Süßer ...
Dann, als er vor ihr zurückwich, sah er das Tranchiermesser in ihrer Hand und den irren Blick in ihren dämonischen Augen. Als sie ihn ohne jede Mühe zu sich heranzog und das Messer hob, um zuzustechen, betätigte er den Abzug der Armbrust. Es war eine instinktive Handlung, ihr Leben oder seines.
Gott! Der Bolzen nagelte sie an die geflieste Wand; sie schrie wie die verdammte Seele, die sie ja auch war, riss sich aus dem splitternden Mörtel und Gips los und wankte in der engen Duschkabine hin und her. Aber sie hatte immer noch das Messer, und Jordan konnte nichts weiter tun, als mit entsetzensstarren Augen dazustehen, während sein Mund unartikulierte Gebete murmelte und sie erneut auf ihn losging.
Doch dann stieß Ken Layard ihn zur Seite. Er hielt einen Flammenwerfer in den Händen, richtete die Düse direkt in die Kabine und verwandelte alles in ein brutzelndes, dampfendes Inferno!
»Gott helfe uns!«, keuchte Jordan jetzt, so wie er damals gekeucht hatte. Er blendete die unerträglichen Erinnerungen aus und stolperte zurück in die Gegenwart. Im Gefolge dieser grauenhaften Reminiszenzen packte ihn sein Kater umso schlimmer. Er holte tief Luft, rieb sich mit den Fingerspitzen den Schädel, wo er am heftigsten pochte, und fragte sich laut: »Was war das denn jetzt?«
Layards Augen waren weit aufgerissen. Er beugte sich über den Tisch und ergriff Jordans Arm. »Du auch?«
Jordan brach ein ungeschriebenes Gesetz unter ESPern: Er warf einen Blick in Layards Gedanken. Er spürte den Nachhall ähnlicher Erinnerungen und brach den Kontakt sofort wieder ab. »Ja, ich auch«, murmelte er.
»Ich habe es in deinem Gesicht gesehen«, meinte Layard. »Ich habe diesen Gesichtsausdruck bei dir nicht mehr gesehen, seit ... seit
Weitere Kostenlose Bücher