ENTWEIHT
du ihn kommen hörst, musst du‘s mir sagen.«
»Wenn ich ihn kommen höre?«, erwiderte Millie, indem sie der zwergenhaften Gestalt folgte und den Blick ringsum schweifen ließ auf der Suche nach etwas, das sie ihm über den Schädel ziehen konnte. »Eigentlich dachte ich, dass du es vor mir merken solltest, wenn er kommt.«
»Zwei Köpfe sin’ besser als einer«, entgegnete Wally. »Außerdem funktioniert meiner in letzter Zeit nich’ so gut.« Erneut ein verschlagener Blick zu ihr zurück. »Der Rest von mir dafür umso besser.«
Sie hatten die steinerne Treppe hinter sich gelassen und den Boden von etwas erreicht, das, wie Millie nun sah, eine riesige Höhle war. »Wie hast du diesen Ort hier eigentlich entdeckt?«, fragte sie ihren Führer. »Wie tief unter London befinden wir uns jetzt überhaupt?«
»Ich?«, meinte Wally. »Ich hab’ gar nichts entdeckt. Das war Lord Szwart. Aber frag’ mich nich’, wie. Auf jeden Fall war’n vor ihm schon Menschen da. Römer, schätze ich, vor zweitausend Jahren! Unn’ wie tief unten wir sin’: hm, locker vier oder fünf Saint Pauls-Kathedralen tief!«
»Römer?« Millie starrte auf den Fußboden hinab, der aus sechseckigen Steinplatten bestand, stellenweise zentimeterhoch von Staub bedeckt. In der Nähe befand sich ein tiefer liegender Bereich, der mit dekorativen, wenn auch schmutzigen Mosaiken gefliest war; es konnte sich nur um ein römisches Bad handeln.
»Da drüben, an der Wand«, machte Wally sie auf etwas aufmerksam. »Die Statuen: Mithras, Summanus und der ganze Rest.«
Sie hielt die Laterne höher und schaute hin. Von erhöhten Podesten aus blickte eine Reihe roh aus Stein gehauener, gut drei Meter fünfzig hoher Statuen lüstern auf sie hinab. Ein sonnengekrönter Mithras mit einem Hammer in der einen und einem Stierkopf in der anderen Hand wirkte besonders unheimlich. Die von seiner Sonnenkrone ausgehenden Strahlen sahen eher wie Schlangen aus. Neben ihm war eine Gestalt zu sehen, mit der Millie nichts anfangen konnte; sie war nackt und wie ein Mann gebaut, hatte aber anscheinend keinen Mund. An der Stelle, an der sich eigentlich der Nabel befinden sollte, ragte ein immer dünner werdender Tentakel aus ihrem Bauch.
»Summanus«, keuchte Wally. »’n komischer Kerl. Man weiß nich’ viel über ihn. Aber so, wie er aussieht, war er anders gebaut als wir.«
»Metamorph«, sagte Millie. »Er könnte sogar Wamphyri gewesen sein!« Sie wandte sich ihrem abstoßenden Begleiter zu. »Du scheinst eine Menge über diese Dinge zu wissen ...«
»Britisches Museum«, kicherte Wally. »Hab’ mich schlau gemacht. Unn’ was die andern angeht, die hab’n keine Gesichter mehr. Siehst du?«
Millie hob erneut die Laterne und sah, dass er recht hatte: Die übrigen Statuen waren verunstaltet. Ihre Gesichter und diverse Gliedmaßen fehlten, eine von ihnen war umgestürzt und lag auf der Seite.
»Der Ort hier muss irgend so 'ner Geheimgesellschaft gehört haben«, sagte Wally. »Die Römer – irgend 'ne Sekte – trafen sich hier unten zu ihrem Kult. Aber sie hatten auch ihre Modefimmel; ihre Götter kamen und gingen; und irgendwann verschwanden die Römer mit ihnen. Das iss’ alles, was übrig iss’.«
»Und niemand sonst weiß, dass dieser Ort überhaupt existiert?« Trotz der Umstände war Millie fasziniert von dem Ganzen. »Und du … und du warst im Britischen Museum, um all dies zu recherchieren?« Es war kaum zu glauben.
»Ziemlich oft«, erwiderte Wally. »Aber nich’ während der Öffnungszeiten, verstehst du? Weißt du, ich kenne and’re Möglichkeiten, da reinzukommen.«
»Und du weißt auch, wie man von hier aus wieder nach oben gelangt?«, sagte Millie. »Du könntest mir den Weg nach draußen zeigen?«
»Könnte schon«, sagte Wally. »Werd’ ich aber nich’. Er will dich hier haben. Unn’ ich auch, wenn ich so darüber nachdenke.« Erneut huschte dieser verschlagene Ausdruck über sein Gesicht, während er einen Schritt näher trat. Millie wich zurück, bis sie mit den Kniekehlen gegen ein Hindernis stieß und sich auf etwas Kaltes niedersetzte … auf eine erhöhte Steinplatte.
»Das iss’n Altar, iss’ das«, grunzte Wally mit leiser Stimme. Sein Keuchen war verschwunden. »Die Römer haben ziemlich viel geopfert, hin und wieder. Vor allem an 'nem geheimen Ort wie hier.«
»Ja«, stieß Millie hervor. Rasch stand sie auf und machte, dass sie die massive Steinplatte zwischen sich und ihn brachte. »Das kann ich mir vorstellen.
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