Envy-[Neid]
Personen jeglicher Herkunft betrachte ich mich als hervorragenden Menschenkenner. Zumindest bin ich ein aufmerksamer Beobachter.
Einige Charakterzüge sind uns allen gemein. Ob sie nach außen treten, hängt von den Umständen ab. Jeder zeigt zeitweise Furcht, Glück, Frustration usw.
Andere Wesenszüge sind nur ganz bestimmten Individuen zu eigen. Sie definieren die Person und ihren Charakter. Zu diesen Wesenszügen gehören bewundernswerte Tugenden wie Demut, Nächstenliebe und Tapferkeit.
Unglücklicherweise gibt es dazu auch dunkle Seiten wie Eifersucht, Habgier und Neid. Menschen, die von einem dieser Wesenszüge beherrscht werden, tarnen dies normalerweise mit Charme. Die meisten sind darin sehr erfolgreich, da sich zu diesem Wesenszug unweigerlich geschickte Täuschung gesellt.
Trotzdem lebt und reift in ihrem Inneren dieser Wesenszug wie ein heimtückischer Aal in einer Höhle, der voller Berechnung auf jenen Zeitpunkt wartet, an dem er gegen irgendeine Bedrohung losschlagen kann.
Ich möchte Ihrem Freund nichts Übles nachsagen. Lieber möchte ich glauben, dass mich mein Barometer für Integrität komplett im Stich gelassen hat, und ich mich bezüglich seiner Motive schrecklich irre.
Und doch erinnere ich mich noch genau an Mr. Graysons Machenschaften, die dazu führten, dass Sie zu einem wichtigen Termin bei mir zu spät kamen. Dies war, einfach gesprochen, ein schmutziger Trick mit bösartigen Untertönen. Offen gestanden überrascht es mich, dass die Freundschaft das überlebt hat. Das ist sicherlich Ihnen zu verdanken. Ich glaube nicht, dass Mr. Grayson die innere Größe besitzt, in solchem Ausmaß zu verzeihen. Dies ist ein weiterer auffälliger Unterschied in Ihrer beider Charaktere.
Doch ich maße mir keineswegs an, Ihnen Ihre Freunde auszusuchen. Diese Verantwortung möchte ich nicht übernehmen, selbst nicht, wenn Sie darin einwilligen würden.
Ich möchte mit einem Ausdruck schließen, den ich auf dem Campus gehört habe. Es handelt sich um eine moderne Redewendung, die der englischen Sprache schlechte Dienste leistet. Dennoch erscheint sie aus der Distanz passend: Kopf hoch.
Ich freue mich auf die Lektüre Ihres nächsten Romanentwurfs. In jedem Ihrer Begleitbriefe entschuldigen Sie sich dafür, meine Zeit in Anspruch zu nehmen, und danken mir für die Sorgfalt und Mühe, die ich Ihrem Werk widme. Mr. Slade, seien Sie versichert, dies ist ein Privileg, keine Zumutung.
Hochachtungsvoll Ihr Professor Hadley.‹«
Parker faltete die Blätter wieder zusammen und steckte sie in seine Hemdtasche. Einen Augenblick lang sagte keiner ein Wort. Sein Text und der Tonfall, mit dem er ihn vorgetragen hatte, hatte Maris eingelullt. Sie schüttelte die leichte Benommenheit ab und versetzte der Schaukel einen leichten Schubs.
»Also hatte Todd instinktiv doch Recht. Hadleys Beurteilungen von Roarks Arbeit waren tatsächlich besser als diejenigen, die er bekam.«
Parker nickte. »Und Roark war diesbezüglich nicht ehrlich.«
»Meiner Ansicht nach zählt das nicht.«
Er schaute zu ihr hinüber. Sein unverwandter Blick trieb sie dazu, den Gedanken weiterzuspinnen.
»Todd hätte es übel genommen, wenn Roark gesagt hätte: ›Deine Vermutung war richtig. Hadley hält dich für einen Holzhacker mit begrenztem Talent. Dagegen glaubt er, ich hätte das Talent zum neuen Steinbeck.‹«
Mike pflichtete ihr bei. »Wenn Roark ihm draußen am Strand die Wahrheit gesagt hätte, hätte Todd ihre Beziehung auf der Stelle beendet. Damit wäre die Geschichte vorbei gewesen. Ende.«
Statt einer Antwort stieß Parker einen Grunzlaut aus.
Anscheinend hatte das Vorlesen seine Laune verdüstert, obwohl sich Maris keinen Grund dafür vorstellen konnte. Der Inhalt hatte sowohl sie wie auch Mike fasziniert. Der Brief war ein kluger Schachzug, um die Story ohne explizites Erzählen voranzutreiben. Sie und Mike hatten dies gutgeheißen, deshalb war ihr seine mürrische Stimmung ein Rätsel. »Parker, welche Laus ist dir über die Leber gelaufen?«
»Roark soll doch der Gute sein, ja?«
»Mag wohl so sein.«
»Macht es dir denn nichts aus, dass er seinen Freund getäuscht hat?«
»Er wollte ihn nicht täuschen, sondern nur nett sein. Er hat versucht, Todd das zu ersparen, was Hadley als ›traurige Wahrheit‹ bezeichnet hat, weil er wusste, wie niederschmetternd es wäre. Todd hat schlicht und einfach nicht so viel Talent wie Roark. Roark hätte vielleicht von Anfang an spüren können, dass Todd…«
Sie schnippte
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