EONA - Das letzte Drachenauge
»Er war stark. Ihr habt mich gebraucht, um ihn zu bezwingen. Ich bin froh, dass Ihr ihn habt leiden lassen.« Ich nickte, erleichtert, dass mein Freund wieder mit mir redete, doch ich wusste, dass ich keine so hochherzige Deutung meines Handelns verdient hatte.
Vor uns blieb Ido plötzlich stehen, spähte zum Himmel, blinzelte, als könnte er etwas erkennen in der schweren Wolkendecke, und sah mich stirnrunzelnd über die Schulter an.
»Spürt Ihr das?«, fragte er mich.
Ich sah kurz durch die Äste zu dem dunklen, fast giftig anmutenden Himmel hinauf. Stellte er mich auf die Probe? Ich hielt inne und überlegte. »Ich spüre etwas. Etwas Lastendes. Mehr als nur den Monsun.«
»Gut«, sagte Ido. »Und aus welcher Richtung?«
Yuso trat näher heran und legte die Hand an das Schwert. »Weitergehen«, befahl er dem Drachenauge.
Ido sah ihn von der Seite an. »Weitergehen, Mylord «, verbesserte er ihn kalt.
»Einfach weitergehen«, sagte Yuso. »Oder Ihr bekommt den Griff meines Schwerts zu spüren, Mylord .«
»Wartet, Hauptmann. Ich würde gern noch etwas von Lord Ido wissen.« Ich wandte mich wieder an das Drachenauge und ging darüber hinweg, dass Yuso mir – weil ich ihm in den Rücken gefallen war – einen schmallippigen und finsteren Blick zuwarf. »Wie finde ich heraus, aus welcher Richtung es kommt?«
»Das wisst Ihr bereits«, erwiderte Ido, doch seine Aufmerksamkeit galt weiter Yuso und er köderte seinen Wächter mit einem verschlagenen Lächeln.
»Nein, das weiß ich nicht.« Dann begriff ich, dass tatsächlich etwas in meinem Kopf war, rot gefärbt vor Angst. Ich konzentrierte mich darauf und versuchte, den Sinn zu erfassen. Langsam trieb es von tief unten nach oben. »Von Westen. Es kommt von Westen.«
»Gut gemacht.« Ido wandte endlich den Blick von Yuso und sah wieder zu der dunklen Wolkendecke hinauf. »Von Westen. Und das ist für diese Jahreszeit die falsche Richtung.«
»Die falsche Richtung? Was bedeutet das?«, fragte Dela von hinten.
»Dass ein Zyklon heranzieht.« Idos Stirnrunzeln wurde noch tiefer.
»Hierher?« Vidas Entsetzen spiegelte das meine wider. »Wann?«
»Lady Eona, sagt es uns«, forderte Ido mich auf.
Eine weitere Probe. »Wie denn?«
»Die Antwort steckt im Hua der Erde. Ihr müsst es erspüren.«
Ich hatte keine Ahnung, was er meinte. »Mit meiner Macht? Aber die zieht die Drachen an.«
»Nein, erfühlt es nur. Als würdet Ihr die Pfade Eures Hua erkunden.«
»Wirklich?« Ich atmete tief durch, noch immer unsicher. Ich wusste, dass das Land innere Pfade hatte, die unseren Meridianen ähnelten: die Energielinien, die die Erde in hellen Bändern kreuz und quer durchzogen. Doch wie sollte ich sie erspüren, ohne mich auf die himmlische Ebene zu begeben? Ich fühlte nur die Hitze auf meiner Haut und das dumpfe Geräusch meines Herzschlags und meine Atemzüge in der Lunge und die leise über meine Haut streichende Brise und den pulsierenden Klang der Insekten in meinen Ohren und -
»In fünf Tagen«, flüsterte ich.
Ido lächelte. »In fünf Tagen«, pflichtete er mir bei.
Ich lachte. »Wie habe ich das gemacht?«
Er sah mich zweifelnd an. »Ihr seid ein Drachenauge. Das ist unsere Aufgabe.«
Ich grinste und konnte meine Begeisterung kaum bezähmen. Ich hatte dem Land zugehört wie ein Drachenauge!
Dann traf mich ein ernüchternder Gedanke. »Aber wir können ihn nicht aufhalten, oder?« Das nämlich war die eigentliche Arbeit eines Drachenauges.
Er blickte erneut zum Himmel. »Nein. Dafür braucht Ihr viel Übung. Und wir brauchen mehr Macht. Aber immerhin können wir ihm ausweichen.«
Schweigend kämpften wir uns nach dieser Nachricht weiter durch das Unterholz. Trotz der Gefahr eines heraufziehenden Zyklons musste ich staunen über meine neu erworbene Fähigkeit, dem Land zuzuhören. Ido setzte so vieles frei in mir! Ich betrachtete seinen breiten Rücken und versuchte zu erahnen, was in seinem listigen Kopf vorging. Er blickte sich um, als hätte er meine Gedanken gespürt, und einen Herzschlag lang war ich im Blick seiner fragenden Bernsteinaugen gefangen. Obwohl kein Silber durch sie hindurchglitt, fühlte ich den Sog seiner Macht. Ich schaute weg. Und doch sah ich am Rande meines Gesichtsfelds, wie er lächelte, und ich merkte, dass meine Mundwinkel wie von selbst belustigt zuckten.
Keine halbe Stunde später hielt Yuso angespannt inne und hob die Hand. Wir blieben stehen und suchten mit den Augen das Unterholz ab.
»Sir!« Caidos Leutnant
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