EONA - Das letzte Drachenauge
Nacken wehte.
Ich atmete tief ein, packte das schwarze Buch aus und ließ das zerrissene Hemd fallen. Die weißen Perlen fuhren in die Höhe, als wollten sie die Luft prüfen, sammelten sich dann auf meiner Hand, zogen das Buch mit sich und banden es mit zwei raschen, klickenden Umdrehungen an meinen Unterarm. Sofort kamen mir seine ätzenden Worte in den Sinn, brannten in meinen Pfaden und flüsterten ihre alte Macht. Ido stand gebeugt vor dem Podest, die Arme um den Leib geschlungen. Zweifellos erinnerte auch er sich noch an die Schmerzen des Righi.
»Es ist in meinem Kopf«, sagte ich. Mein Mund schmeckte nach Blut und nach Asche.
»Singt es«, forderte Ido mich auf.
Die Worte warteten schon. Ihre bittere Klage enthielt das gebundene Hua Aller zwölf Drachen und die letzten kalten Echos von Kinra. Wie von selbst sang ich immer schneller. Die Töne drangen zu den im Kreis versammelten Tieren, nahmen ihren Perlen die surrende Energie und verwoben sie mit dem glühenden Lied, das aus mir herausfauchte mit dem Feuer von Leben und Tod.
Die Drachen antworteten auf meinen Gesang mit einem schrill kreischenden Chor. Durch das grauenvolle Geräusch drang das dringliche Bellen des Rattendrachen, auf dessen blau schillernder Perle azurne Flammen spielten. Sein Ruf brachte die übrigen Tiere zum Verstummen und alle sahen zu, wie er sein mächtiges keilförmiges Haupt senkte und seine fassgroße Perle in den opalfarbenen Klauen vorsichtig auf den Boden legte. Die Trennung von Drache und Perle zitterte durch das Buch und durch meinen Gesang: ein Schmerz des Verlusts und doch auch der Hoffnung, der mir beinahe die Tränen in die Augen trieb. Wimmernd stieß der Rattendrache die Kugel mit dem Maul an und rollte die Quelle seiner Macht und Weisheit ein Stück von seinen opalenen Klauen weg.
Ich blickte kurz zu Ido. Er kauerte niedergeschmettert am Boden, als er sah, wie sein Drache die Perle aufgab, die ihre zwölfjährige Verbindung enthielt.
Neben dem Rattendrachen warf der violette Büffeldrache das gehörnte Haupt in den Nacken und heulte sein Lied von Schmerz und Hoffnung. Die weichen lavendelfarbenen Schuppen unter dem Kinn und um die Perle herum schimmerten in lila Flammen. Er senkte den Kopf, ließ die Perle vorsichtig auf den Boden fallen und stupste sie mit seiner amethystenen Klaue behutsam vorwärts, bis sie sanft gegen die blaue Perle des Rattendrachen stieß. Sobald sie an ihrem Platz war, hob der grüne Tigerdrache das Haupt und besang seinen Verlust. Nacheinander gehorchten die männlichen Drachen ihren im Buch gebundenen Geistern und legten ihre Perlen auf die Erde.
Ich spürte jeden ihrer sehnsüchtigen Schreie durch das Buch vibrieren, bis elf riesige Drachenperlen, auf denen ein lebhaftes Farbenspiel flackerte, auf dem zertrampelten Boden rings um die Plattform in einem Kreis beieinanderlagen.
Nur eine Perle fehlte.
Der letzte Ruf kam vom weiblichen Spiegeldrachen. Sie hob ihr majestätisches Haupt, und die glänzenden blutroten Schuppen am Hals und auf der Brust warfen das lodernde Gold ihrer Perle zurück. Ihr pulsierender Ruf drang durch mein Lied wie ein Herzschlag. Sie streckte das riesige Schuppenmaul über die Plattform, blähte die pferdeähnlichen Nüstern und blies ihren nach Zimt duftenden Atem sanft auf uns herab. Die Augen unter den schweren, geschwungenen Hörnern sprachen mit ihrem dunklen, alterfahrenen Blick vom ewigen Kreislauf von Leben und Tod – und davon, wie lange die Drachen auf ihre Befreiung gewartet hatten.
Bring es in Ordnung .
»Gebt Eona die Kaiserliche Perle«, befahl Ido. »Sofort!«
Kygo griff nach oben und das glatte, heiße Schmuckstück rollte in meine Hand. Der Gesang in meinem Kopf und in meiner Kehle schürte das Feuer im Herzen des Eis und seine silbrige Energie begann zu leuchten.
»Eona, Ihr müsst die Perle dem Spiegeldrachen geben«, sagte Ido.
Doch ich kannte den alten Pfad der Erneuerung schon: Er tönte in meinem Blut und in meinen Knochen.
Erst musste ich den Lebensfunken des strahlenden Eis entfachen und ihn dann in die goldflammende Perle des roten Drachen pflanzen. Sobald das geschehen war, konnte ich das in dem schwarzen Buch gefangene Drachen-Hua freilassen und es den Tieren zurückgeben, damit sie sterben und wiedergeboren werden konnten.
Doch die ätzenden Worte flüsterten mir auch noch einen anderen Weg zu, auf dem alle Macht der Welt auf mich wartete. Nimm die Geister der zwölf Drachen in dich auf , zischten sie. Nimm die Macht, die
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