Epsilon
Vater. Das war Susans letzte Hoffnung.
Es war Donnerstag, der Tag ihres Testversuches mit Charlie. Susan arbeitete in dieser Nacht bis in die frühen Morgenstunden durch. Sie programmierte den gigantischen Computer immer wieder aufs Neue, der sowohl die virtuelle Umgebung schuf als auch die Laborgeräte kontrollierte, die sie für ihre laufende Reihe von Gedächtnisexperimenten benötigte – Experimente, die sie angeblich an Charlie durchführte. Niemand, der ihre Arbeit kontrollierte, hätte Verdacht geschöpft und in Frage gestellt, was sie da eigentlich tat. Das war Susans einziger Vorteil gegenüber der mächtigen Foundation: die Tatsache, dass sie, Susan, die Expertin war, im Gegensatz zu ihnen. Auf ihrem Fachgebiet war sie ihnen meilenweit überlegen. Nur wenn sie einen weiteren Experten hinzugezogen hätten, der jede ihrer Handlungen genau beobachtete, hätten sie sie kontrollieren können. Aber sie hatten keinen anderen Spezialisten, zumindest niemanden, der Susans Niveau entsprach. Sonst wären sie ja auf Susans Mitarbeit nicht angewiesen gewesen.
Susan blickte auf die Uhr, nachdem sie mit der Arbeit fertig war, und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, die Tastatur vor sich. Es war kurz nach drei Uhr nachts. In sechs Stunden würde sie mit Charlie wieder im Labor sein und sein Gehirn mit dem Programm füttern, das sie gerade geschrieben hatte. So würde er erfahren, dass sie am Samstagmorgen zur Ranch fliegen würde, um dort das Wochenende mit Christopher und ihrem Vater zu verbringen.
Er würde auch erfahren – nun, da sie sich seiner so sicher war, wie unter den gegebenen Umständen möglich –, wie er von diesem Ort entkommen und zu ihr stoßen konnte.
»Zhuangzi war ein chinesischer Weiser, der vor zweieinhalb Jahrtausenden lebte. Er erzählte einmal davon, wie er geträumt hatte, er sei ein Schmetterling. Und als er aufwachte, wusste er nicht, ob er ein Mensch war, der geträumt hatte, ein Schmetterling zu sein, oder ein Schmetterling, der nun träumte, ein Mensch zu sein. Diese Geschichte wurde immer wieder erzählt und weitergegeben, denn sie umschreibt etwas, das die Menschheit instinktiv schon immer wusste – nämlich dass wir uns nie sicher sein können, ob die Außenwelt mit dem Bild, das wir uns von ihr machen, tatsächlich übereinstimmt. Wir können uns nicht einmal sicher sein, ob die Außenwelt tatsächlich existiert. Nach allem, was wir wissen, könnte sie auch bloße Einbildung sein. Wir können weder das eine noch das andere beweisen. Und letztendlich spielt es keine Rolle. Es spielt deshalb keine Rolle, weil unsere Erfahrungen dieselben sind, ob sie nun zu uns oder von uns kommen. Sie sind da, und nur das zählt.«
Charlie verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und hörte aufmerksam zu.
»Wichtig ist, dass du Folgendes begreifst, Charlie: Jede Realität ist virtuelle Realität. Eine andere gibt es nicht.«
Susan hielt eine rote Rose hoch. Charlie wusste nicht, wo sie sie herhatte, sie erschien einfach in ihrer Hand. Doch an solche Tricks hatte er sich inzwischen gewöhnt.
»Du nimmst doch sicher nicht an, dass diese Rose tatsächlich rot ist, oder?«
Inzwischen hatte er auch seine Erfahrungen mit ihren rhetorischen Fragen gemacht. Susan wollte auf etwas Bestimmtes hinaus, und er unterbrach sie nicht mit einer Antwort.
»Farben entstehen – wie alles andere auch – in deinem Kopf. Licht wirkt auf die Nerven hinter deinen Augen und sendet eine Serie elektrischer Impulse in dein Gehirn, das diese Impulse in Kategorien wie Form, Größe, Perspektive und Farbe umwandelt. Doch es entsteht nur ein inneres Abbild von dem, was draußen ist, und du kannst dir nie sicher sein, dass deine Kamera dir keinen Streich spielt – wie jetzt zum Beispiel.«
Sie standen beide auf dem Mond – oder genauer: auf einer überzeugenden Simulation desselben. Keiner von ihnen trug einen Raumanzug, und die Schwerkraft war beziehungsweise schien dieselbe zu sein wie auf der Erde. Das konnte jedoch schnell geändert werden; Charlie hatte bereits mehrere angenehme Momente damit verbracht, zehn Meter in die Luft (Luft?) zu springen und sanft wieder zu Boden zu schweben.
»Okay, Charlie«, fuhr Susan fort. »Genug der Theorie. Worauf ich hinaus will, ist Folgendes: Du sollst wissen, dass wir uns in einer virtuellen Umgebung befinden, dass du dir dessen aber erst sicher sein kannst, wenn etwas scheinbar Unmögliches geschieht.«
»Wenn du mich mit einer virtuellen Kugel erschießen
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