Epsilon
Erinnerungen stiegen darin auf, halb geformt nur, aus dem wirbelnden Nebel der Zeit auftauchend, und verschwanden wieder, bevor er sie fassen und benennen konnte. Doch er wusste, dass er nur zu warten brauchte, und eine Erinnerung würde klar hervortreten. Ja, er wusste, welche es sein würde. Es war die Erinnerung, die stets zu ihm zurückkam, wenn er sich morgens in diesem Zustand befand.
Kathy Ryan war das erste Mädchen, das er je geliebt hatte, und das erste Mädchen, das ihn geliebt hatte. Sie hatte ihn gelehrt, was Liebe bedeutet, als er sie am Nötigsten brauchte. Wenn er jetzt zurückblickte, wusste er, dass es wahre Liebe gewesen war, nicht nur die Schwärmerei eines Heranwachsenden. Es musste in der sechsten oder der siebten Schule gewesen sein, auf die man ihn geschickt hatte. (Wie viele Schulen waren es wohl insgesamt gewesen? Zu viele und doch nicht genug. Er hatte während der ganzen Zeit nicht eine verdammte Sache gelernt. Seine Schulzeit war nicht mehr gewesen als eine endlose Aneinanderreihung von Kämpfen, Strafen, Schuleschwänzen und noch mehr Kämpfen.)
Sie waren damals noch Kinder, er und Kathy. Sie hatten keine sexuelle Beziehung gehabt, obwohl es sicher dazu gekommen wäre, wenn man sie nicht wieder eingefangen hätte, damals, als sie zusammen davongelaufen waren. Eines Morgens waren sie einfach abgehauen. Sie hatten sich nicht abgesprochen, ein Blick genügte, und sie hatten gewusst, was sie wollten. Sie machten sich davon und nahmen nicht mehr mit als die Kleider, die sie am Leib trugen, und etwas Kleingeld.
Der Tag war ihm heute noch als einer der schönsten seines Lebens in Erinnerung. In gewissem Sinne war es der allererste Tag seines Lebens gewesen. Er war ausgebrochen und hatte Frieden gefunden, zusammen mit einem Menschen, der ihm etwas bedeutete und dem er etwas bedeutete. Ein Mädchen, Kathy, von der er, nachdem sie Hand in Hand durch die Stadt gewandert waren und den Rangierbahnhof am anderen Ende erreicht hatten, wusste, dass er mit ihr zusammen bleiben wollte, dass er sie beschützen und lieben wollte für den Rest seines Lebens. Sie verriet ihm, dass sie dasselbe fühlte. Alles, was sie suchten, war ein abgeschiedener Ort, an dem sie allein sein konnten.
Man fasste sie bei dem Versuch, auf einen Güterwaggon zu springen. Charlie kämpfte wie ein Tiger gegen zwei Polizisten, die größer waren als er, doch am Ende legten sie ihm die Handschellen an. Statt die Nacht seiner Träume mit Kathy zu verbringen, verbrachte er sie alleine in einer Arrestzelle. Am nächsten Tag brachte man ihn in einem jener gepanzerten Wagen zum Waisenhaus zurück, mit dem man sonst Verurteilte ins Gefängnis beförderte. Anschließend sperrte man ihn alleine in ein Zimmer mit den drei Schlägertypen, die für die »Sicherheit« zuständig waren. Sie versprachen ihm eine Lektion, die er so schnell nicht vergessen würde. Allerdings lief es nicht ganz so, wie sie sich das vorgestellt hatten. Er verletzte einen von ihnen ziemlich schwer, bevor die beiden anderen ihn mit Baseballschlägern brutal zusammenschlugen. Danach warfen sie ihn in das so genannte »Loch«. Er erinnerte sich nicht, wie viele Male er schon dort gewesen war, jedoch nie so schwer verwundet. Ihm war klar, dass er für vierundzwanzig Stunden nichts zu essen und zu trinken bekommen würde, vielleicht sogar für länger. Wenn es nach ihnen ging, konnte er da drinnen verrecken. Und in der Tat glaubte er, dass ihm das bevorstand. Als das taube Gefühl in seinen Gliedern nachließ, wurde der Schmerz noch stärker. Irgendwann musste er ohnmächtig geworden sein. Als er wieder zu sich kam, setzte der Schmerz erneut ein. Er versuchte an Kathy zu denken. Das half ein wenig. Doch die Schmerzen waren noch immer schrecklich.
Als sie ihn schließlich aus dem »Loch« gezogen hatten und er von einem Arzt untersucht worden war, erklärte man ihm, dass er verlegt werden würde – und zwar gleich, noch am selben Morgen. Er wurde in einen anderen Gefängniswagen gesteckt. Die Fahrt über Land dauerte lange. Schließlich fuhren sie durch ein Tor auf ein Gelände, das aussah wie ein privater Park oder eine große Ranch. Charlie entdeckte Gruppen von jungen Männern, die arbeiteten, Sport trieben oder einen Hindernis-Parcours durchliefen. Es sah aus wie ein Trainingslager. Das war sein erster Eindruck von der »Farm« und der erste Tag seines neuen Lebens.
Er bedauerte damals nur, dass er nicht wusste, wie er mit Kathy Kontakt aufnehmen sollte. Er
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