Epsilon
wusste von ihr nur, dass sie, wenn sie nicht in der Schule war, im Waisenhaus für Mädchen ein paar Kilometer entfernt lebte. Er kannte weder Adresse noch Namen des Hauses. Und selbst wenn er sie gekannt hätte, er hatte nicht gewusst, ob er in der Lage gewesen wäre, ihr zu schreiben – oder falls doch, was er ihr hätte schreiben sollen. Und außerdem konnten sie Kathy ebenso wie ihn irgendwohin verlegt haben. Vielleicht ging es ihr dort sogar gut. Sein Leben besserte sich auf jeden Fall, daran bestand kein Zweifel; doch er wünschte sich, Kathy wäre ein Teil davon. Vielleicht, so sagte er sich, wird sie das ja eines Tages noch werden. Das war sein großer Traum.
In der Zwischenzeit blieben ihm seine Erinnerungen. Doch er hatte lernen müssen, dass das Gedächtnis einem manchmal seltsame Streiche spielte. So konnte er sich zum Beispiel an keinerlei Farben vor seiner Zeit auf der »Farm« erinnern. Oder an Kathys Gesicht. Obwohl er sich an sie lebhafter als an alles andere in seinem Leben erinnerte, gelang es ihm nicht, sich ihr Gesicht vorzustellen. Vielleicht hatte er zu oft und zu intensiv an sie gedacht, sodass das Bild, das er von ihr hatte, verblichen war. Oder, so versuchte er sich manchmal einzureden, wir glauben nur, uns deutlich an Menschen zu erinnern, während wir tatsächlich nur einen allgemeinen Eindruck von ihnen zurückbehalten, genug, um sie wiederzuerkennen, wenn wir ihnen erneut begegnen, aber zu wenig, um wie auf einem Fernsehschirm ein Bild von ihnen vor unserem inneren Auge entstehen zu lassen.
Und dennoch konnte Charlie sich an andere Menschen erinnern. Er erinnerte sich an Debbie im Zimmer nebenan, sah sie deutlich vor sich, so, wie er sie vor ein paar Minuten verlassen hatte. Wenn er die Augen schloss, konnte er sich fast jeden seiner Bekannten vorstellen, ob Mann oder Frau. Warum also gelang ihm das nicht mit Kathys Gesicht?
Offensichtlich fand eine Art Selbstzensur statt. Sein Leben vor der Zeit auf der »Farm« war ein einziges Grauen, das er zu vergessen suchte. Es war, als hätte er diesen Lebensabschnitt komplett aus seinem Gedächtnis gestrichen, und nur einzelne Fragmente und Schattenbilder waren übrig geblieben, die kein kohärentes Ganzes mehr bildeten. Kathy war das einzig Gute, das ihm in jenem Leben begegnet war, und es betrübte ihn, dass er sie offensichtlich mit all dem anderen aus seinem Gedächtnis verbannt hatte. Er fragte sich, ob er sie wiedererkennen würde, wenn er ihr begegnete. Und dann fragte er sich wie schon so oft zuvor, was wohl aus ihr geworden war.
»Charlie? Wo bist du…?«
Debbie rief aus dem Schlafzimmer nach ihm, ihre Stimme klang noch schlaftrunken. Normalerweise hätte er das erregend gefunden, doch heute blieben seine Gedanken beharrlich woanders.
Aber wo genau? Wenn nicht hier, wo waren seine Gedanken dann?
»Charlie, komm ins Bett zurück, Schatz… Ich will noch ein bisschen mehr von dem, was du mir heute Nacht gegeben hast…«
Das klang verheißungsvoll. Und war das nicht das, was er wollte?
Und doch… und doch… woran versuchte er sich so angestrengt zu erinnern? Und warum spielte es eine Rolle? Immerhin geschah es nur in Augenblicken wie diesen, wenn nichts anderes ihn beschäftigte, dass er über die Vergangenheit nachdachte und versuchte, sie zu begreifen. Meist hatte er Besseres zu tun.
»Charlie…?«
Wie jetzt zum Beispiel.
»Ja, Liebling. Ich komme.«
Er drehte dem Fenster den Rücken zu und ging langsam zurück ins Schlafzimmer. Unterwegs streifte er den Bademantel ab – zusammen mit den Bruchstücken seiner Erinnerung, bereit, sich in Handfesteres zu vertiefen als in die Vergangenheit.
9
Amery Hyde war ein großer Mann, und seine schlanke Gestalt ließ noch immer den durchtrainierten Athleten erkennen, der er einst gewesen war. Er wirkte sehr viel jünger als vierundsechzig, und Susan wusste, dass er auf Frauen noch immer eine gewisse Anziehungskraft ausübte. Sie wusste auch, dass er seit dem Tod ihrer Mutter mehrere Affären gehabt hatte, und eigentlich wunderte es sie, dass er nicht wieder geheiratet hatte. Doch sie hatte nie Fragen gestellt und er von sich aus hatte keine Einzelheiten preisgegeben – bis zu den zurückliegenden Wochen nach Johns Tod, in denen er ihr beigestanden hatte.
Sie lernte keine grundsätzlich neuen Seiten an ihm kennen. Es war einfach nur interessant zu sehen, wie er sich ihr gegenüber öffnete. So hätte es auch in der Vergangenheit sein können, dachte Susan, wenn wir nur mehr Zeit
Weitere Kostenlose Bücher