ePub: Ashes, Ashes
war, was Lucy damit machen sollte.
Sie lief auf die andere Seite des Schreibtischs. Über dem Stuhl hing ein weißer Kittel, der nach Desinfektionsmittelnund medizinischem Alkohol roch. Der Geruch erinnerte Lucy so lebhaft an Dr. Lessing, dass sie fast glaubte, vor ihr zu stehen. Ein Anflug von Angst streifte sie. Sammy, der zunehmend besorgter dreinsah, trat nun ebenfalls hinter den Schreibtisch. Lucy schlug die Akte auf. Als Erstes stieß sie auf ein Foto, das langsam zu verblassen begann. Auf diesem Foto trug sie das Haar noch länger und ihr Gesicht wirkte jünger. Die Schulzeit erschien ihr Jahrhunderte weit weg.
Einige Textpassagen waren hervorgehoben. Individuum zeigt natürliche Resistenz der höchsten Stufe. Möglicherweise lebende Quelle zur Gewinnung des Mutterserums. Todesrisiko für Individuum bei kontrollierter Blutentnahme: 97,2 %
»Was?«, stieß Lucy leise aus. Ihre Hand begann zu zittern.
»Worum geht es denn bei diesem Medizin-Geschwafel?«, wollte Sammy wissen und zeigte mit dem Finger auf die aufgeschlagene Seite.
»Es geht um mich, Sammy. Um mein Blut.«
»Das ist nicht dein Ernst!« Sammy sah sie überrascht an. »Wieso sollten sie denn so einen dicken Ordner über dich anlegen? Das sind doch mindestens hundert Seiten. Woraus besteht dein Blut denn? Aus vierundzwanzigkarätigem Gold?«
Lucy schüttelte den Kopf.
»Wir müssen dieses Zeug vernichten.« Sie nahm den Ordner hoch. Er war sehr schwer und an den Seiten fielen einige Papiere heraus. Lucy ging in die Knie und sammelte sie auf. Sie stieß auf eine Notiz aus der Zeit, als sie durch die Glastür gerannt war und sich die Wade aufgeschlitzt hatte. Auch dieErgebnisse der schulärztlichen Untersuchungen lagen vor. Die gesamte Geschichte ihrer körperlichen Verfassung war hier vollständig zusammengefasst. Ich nehme die Akte einfach mit, beschloss Lucy. Nun öffnete sie die Schreibtischschubladen. Lautlos glitten sie über die Metallschienen. Viele, viele Akten, alle säuberlich eingeordnet. Unbekannte Namen. Lucy fragte sich, ob wohl noch weitere Jugendliche darunter waren, die sich in ihrer Lage befanden. Dann fiel ihr wieder ein, dass die Ärztin bei ihr von einer Ausnahmeerscheinung gesprochen hatte.
Lucy kümmerte sich nicht weiter um die Akten und widmete sich einem kleinen Stapel Notizbücher, die mit Dr. Lessings akkurater Handschrift beschriftet waren. Sie schlug eines auf und überflog die Seiten mit Zahlen und seltsamen Symbolen, die Unmengen medizinischer Fachausdrücke, die sie nicht mal ansatzweise verstand, und einige tagebuchähnliche Eintragungen, die merkwürdig persönlich klangen. Immer wieder sprang Lucy ihr Name von den Seiten entgegen. Sie öffnete ihren Rucksack und schob die Notizbücher und ihre Medizinakte hinein. Dann widmete sie sich dem Schrank mit den Blutproben. Lucy öffnete die Tür und betrachtete die Reihen der Glasampullen, die wie Rubine leuchteten. Zehn Ampullen waren säuberlich mit Lucys Namen etikettiert.
Sie hätte sie vernichten können, das wäre kein Problem gewesen. Aber Lucy zögerte. Obwohl Dr. Lessing offenbar verrückt war, versuchte sie immerhin, den Menschen einen Dienst zu erweisen.
»Wow!«, stieß Sammy aus, während er gleichzeitig die Tür im Auge behielt.
Lucy sah kurz zu ihm. »Sammy, hier geht es um üble Dinge. Das da ist mein Blut – und wer weiß, von wem sonst noch.«
Seine spöttische Miene wurde ernst. »Okay. Bring zu Ende, was du tun musst, und dann lass uns Aidan suchen und abhauen.«
Lucy war unschlüssig. Sie nahm eine Ampulle aus dem Schrank und hielt sie in der Hand. Wenn ihr Blut wirklich ein Gegenmittel enthielt, war es falsch, nicht wenigstens ein bisschen davon der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen. Sie versuchte ihre persönlichen Gefühle beiseitezuschieben, die Empörung darüber, dass man ihren Körper angetastet und ihr gegen ihren Willen Medikamente zugeführt hatte. Seufzend schloss sie den Kühlschrank wieder. Ohne den Sinn ihres Handelns genau abzuwägen, beschloss sie, eine Ampulle mitzunehmen und den Rest dort zu lassen.
Sie öffnete ihren Rucksack, legte die Ampulle in ihre Zünddose und polsterte sie mit ihren Ersatzsocken aus. Dann drehte sie sich zu Sammy. »Komm«, flüsterte sie.
Lucy öffnete die Tür und spähte in den Flur hinaus. Vollkommen leer und still lag er da – abgesehen von einem eigentümlichen Klicken, das die abgeschaltete Klimaanlage von sich gab. Nun drehte Lucy das Schloss der nächsten Tür zurück und
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