ePub: Ashes, Ashes
geschlossen.
Lucy schwang ihre Beine über die Bettkante und stellte ihre Füße auf den Linoleumboden. Es war kalt. Ihre Arme waren steif und schmerzten. Lucy schob den Ärmel ihres T-Shirts zurück und entdeckte an den Innenseiten ihrer Unterarmeeine Reihe frischer Einstiche. Es waren vier, fünf an jedem Arm, und um jeden Einstich herum war die Haut gerötet.
In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie schloss die Augen und biss sich auf die Lippe, so heftig, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie durfte nicht ohnmächtig werden! Sie durfte sich nicht übergeben! Sie trank etwas Wasser. Es war lauwarm und schmeckte widerlich, aber ihrem trockenen Hals tat es gut. Sie stand auf. Erneut überkam sie ein Schwindelgefühl, ebbte dann aber wieder ab. Mit nackten Füßen ging sie über das Linoleum zur Tür. Sie drückte die Klinke. Abgeschlossen! Sie stemmte die Hände gegen das Türblatt. Die Tür war aus Stahl und eiskalt. Lucy ballte die Fäuste und schlug auf das unnachgiebige Material ein.
An der Wand standen ihre Stiefel, die Socken lagen ordentlich zusammengerollt daneben.
Lucy zog Socken und Stiefel an und trat gegen die Tür. Irgendwann gab sie auf. Ihre Zehen schmerzten und die Wunde in ihrer Handfläche ebenfalls. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie säuberlich versorgt worden war – mit einem quadratischen, hautfarbenen Pflaster.
»Dr. Lessing!«, schrie sie. Immer wieder, eine ganze Weile lang.
Sie kniete sich auf den Boden und versuchte unter der Tür hindurchzusehen, aber das Türblatt reichte bis auf den Fußboden herab. Sie fuhr mit dem Finger über den Spalt an der Türzarge. Durch den Schlitz war ein Schließriegel auf der Außenseite zu erkennen. Ob sie die Tür aufbrechen konnte? Allerdings hatte sie nichts ... bis auf ihr Messer! Befand es sichüberhaupt noch in ihrer Jackentasche? Lucy stand auf und lief zum Bett hinüber. Schon von außen ertastete sie erleichtert die Ausbeulung in der Jackentasche. Sie riss das Messer heraus, lief zurück zur Tür, schob die Klinge in den Türspalt und fuhr damit bis zum Riegel hinab. Vorsichtig bewegte sie das Messer hin und her und hatte das Gefühl, dass der Riegel einen Millimeter nachgab. Nun drückte sie fester zu und kippte das Messer zur Seite. Metall rutschte über Metall, während Lucy gleichzeitig drehte und vorsichtig drückte.
Mit einem Klirren brach das Messer entzwei. Was ihr blieb, waren keine acht Zentimeter eingekerbter Klinge mit überdimensioniertem Griff, der viel zu schwer und unhandlich war. Mehr war vom Messer ihres Vaters nicht mehr übrig.
Die Tränen überkamen sie unerwartet. Heiß brachen sie aus ihr hervor und sprengten ihr fast die Brust. Als sie wieder versiegten, war Lucy erschöpft. Sie setzte sich auf den Boden, das zerbrochene Messer in den tauben Fingern. Die Tür ... die Tür war genauso fest verschlossen wie vorher. Das Zimmer erschien Lucy viel zu klein. Es gab zu wenig Luft, ihre Lungen konnten nicht durchatmen. Lucy hatte das Gefühl, von den Wänden erdrückt zu werden.
Das Fenster. Es befand sich mehr als vier Meter über ihr. Lucy war klar, dass sie es nicht erreichen konnte. Nicht, wenn sie sich auf das Bett stellte, und auch nicht, wenn es ihr irgendwie gelänge, den Nachttisch auf das Bett zu wuchten und hinaufzuklettern, ohne sich den Hals zu brechen. Außerdem war die Öffnung viel zu schmal, um sich hindurchzuquetschen.
Lucy lief hin und her. Sie merkte, wie sich Wut in ihr aufstaute, bis sie schließlich das Gefühl hatte, explodieren zu müssen. Sie sank auf ihr Bett. So weit über dem Boden zu sitzen, kam ihr komisch vor. Sie nahm das Bettzeug und häufte es in einer Ecke zusammen. Dann legte sie sich darauf, schlüpfte in ihre Lederjacke und zog die raue Decke bis zum Kinn. Sie drehte das Messer in ihrer Hand hin und her. Die Klinge hatte eine tiefe Kerbe und besaß nun zwei Spitzen mit scharfen Kanten – wie Reißzähne. Früher oder später würde Dr. Lessing kommen. Dann wollte Lucy sich auf sie stürzen, ihr das Messer an den Hals setzen und sich aus ihrem Gefängnis befreien.
Sie schlief unruhig, die Knie angezogen und ihre zerstochenen Arme über dem Kopf. Die dünne, nach Desinfektionsmitteln riechende Decke kratzte. Immer wieder wachte Lucy auf und döste wieder ein. Die Klimaanlage war sehr laut. Das Dröhnen des Generators, der irgendwo tief unter ihr ratterte, wenn er sich ein- und wieder ausschaltete, hielt sie im Halbschlaf. Außerdem hielt das elektrische Licht sie wach, auch wenn
Weitere Kostenlose Bücher