ePub: Ashes, Ashes
wenn nicht – die Kleider, die du trägst, müssen wir vernichten. Die Bleiche ist uns schon vor einem Monat ausgegangen und von den Pflanzenmixturen funktioniert keine einzige.«
Lucy erinnerte sich, wie ihre Mutter die Decken und Kopfkissen der gesamten Familie auf einem großen Scheiterhaufen verbrannt hatte.
»Meine Lederjacke lasse ich mir nicht abnehmen! Und meine Stiefel auch nicht. Sonst bin ich gleich wieder weg!« Sie zog ihre Jacke enger um sich. Ihre Stiefel hatte sie schon so lange, dass sie ihr – auch wenn sie noch so abgewetzt und heruntergekommen waren – wie alte Freunde vorkamen.
Leo warf einen kurzen Blick auf die Stiefel und die Jacke, dann sah er in Lucys verschlossenes Gesicht. »Du kannst beides behalten. Die Krankheitskeime nisten in Pflanzenfasern. Lass uns weitermachen.« Er bewegte sich langsam und hielt seine Hände so, dass Lucy sie sehen konnte.
Mit seinen Daumen drückte er unterhalb ihrer Kieferknochen und hinter Lucys Ohren. Seine Griffe waren schnell und sicher. Lucy schloss die Augen und versuchte nicht daran zu denken, wie ihr Vater ihr das Haar aus dem Gesicht gestrichen hatte, als sie ein kleines Mädchen war, oder wie er ihr die Nase zugehalten hatte, wenn sie ihre Lebertrankapseln nicht nehmen wollte. »Tut es irgendwo weh?«
Sie schüttelte ungeduldig den Kopf. Er stieß den Atem aus und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Lucy fragte sich, ob er vielleicht nervöser war, als er zugeben wollte.
»Henry wird dir ein paar Fragen stellen, wenn er wieder da ist. Er kümmert sich gerade um die Jagd.«
»Jagd – auf Tiere?«, fragte Lucy.
Leo sah sie belustigt an. »Worauf denn sonst?«
Lucy zuckte die Schultern. »Wer ist dieser Henry?«
»Er ist unser medizinischer Experte.« Leo setzte sich auf einen Stuhl, legte seine großen Hände auf die Knie und drückte sie so weit durch, dass der Stuhl nur noch auf einem Bein kippelte.
Wieder durchzuckte es Lucy. Genauso hatte ihr Vater immer an seinem Schreibtisch gesessen. Auch wenn ihre Mutter sich immer darüber beklagte, dass das dem Boden schadete.
»Hast du noch mehr Kleidung dabei?«, fragte Leo.
Lucy nickte. Sie öffnete den Rucksack und förderte ihr durchweichtes Klamottenbündel zutage. Sie rümpfte die Nase.Das Zeug stank nach Moder und altem Schweiß und verströmte wegen der Verletzung in ihrer Handfläche den metallischen Geruch von Blut. Lucy ließ die Kleider auf den Boden fallen. Sie waren abgenutzt und unansehnlich und im Grunde ohnehin nicht mehr tragbar. Lucy grub weiter und warf ihre kaputte Taschenlampe, die Zünddose, ihr Tagebuch, ihr Jahrbuch von der Schule, ihr Überlebenshandbuch und ihren muffigen Polyesterschlafsack auf einen weiteren Haufen. Dann stießen ihre Fingerkuppen auf etwas Weiches, Wolliges auf dem Grund ihres Rucksacks und ihr Herz machte einen Sprung. Der Schal ihrer Mutter! Den wollten sie doch wohl nicht auch haben? Leo hatte von Pflanzenfasern gesprochen, Baumwolle zum Beispiel. Aber der Schal war aus Wolle. Wolle war doch okay, oder?
Sie zog ihre Hand aus dem Rucksack und sah auf. »Das war’s«, sagte sie fest und deutete auf den Kleiderhaufen. Langsam ließ Leo seinen Blick darübergleiten, dann nickte er, und Lucy stopfte alles, bis auf die Kleidung, zurück in den Rucksack und zog ihn zu.
»Das war’s?«
»Ja. Sicher«, sagte sie und drückte den Rucksack an sich. Merkte er, dass sie log?
Eine Furche erschien auf seiner Stirn. »Wie lang warst du allein?«
Sie stieß den Atem aus. »Ein Jahr vielleicht.«
Seine Augenbrauen wanderten empor, aber er sagte nur: »Wenn du noch etwas brauchst – da drüben sind noch mehr Klamotten. Handtücher haben wir keine, aber du findest sicher etwas anderes zum Abtrocknen.« Er erhob sich schwerfällig und deutete auf die Duschkabine. »Du hast knapp fünfzehn Liter Wasser zur Verfügung. Wenn du es aufbrauchst, bevor du dir die Seife abgespült hast, musst du dir etwas einfallen lassen.« Er reichte Lucy ein Stück grober Seife. Sie duftete überwältigend nach Pfefferminze und Zitrone und fühlte sich fettig an.
»Alles klar?«, sagte er und machte Anstalten zu gehen. »Falls du noch irgendetwas brauchst – ich bin vor dem Zelt.«
Augenblick! Leo war schon so gut wie weg, als Lucy fühlte, wie sich in ihrem Bauch ein wohlbekannter Klumpen Angst breitmachte. Im Freien, wo sie ihre Umgebung sah, fühlte sie sich sicherer. Dem Zelt konnte sich nähern, wer wollte, und Lucy würde es erst merken, wenn es zu spät
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