Er liebt mich, er liebt mich nicht - Gibson, R: Er liebt mich, er liebt mich nicht - Daisy's Back in Town
hatte, war ihr Plan so klar gewesen – sie würde nach Lovett fahren, um ihre Mutter und ihre Schwester für ein paar Tage zu besuchen, würde mit Jack reden und ihn über Nathan aufklären. Innerhalb von zwölf Tagen. Am Vorabend hatte sie noch geglaubt, dass sie reichlich Zeit dafür hätte.
Sie hatte gewusst, dass es schwierig werden würde, aber es war eine klare Sache gewesen. Sie und Steven hatten vor
seinem Tod darüber geredet. In ihrer Manteltasche steckte immer noch der Brief, den Steven verfasst hatte, bevor er nicht mehr hatte lesen und schreiben können. Als er die Tatsache, dass er sterben würde, akzeptiert und eingesehen hatte, dass es keine Heilung für ihn gab, keine Experimente mit Medikamenten mehr, keine radikalen Operationen, hatte er das Bedürfnis gehabt, sich mit all den Menschen auszusöhnen, denen er seiner Meinung nach in seinem Leben Unrecht getan hatte. Einer dieser Menschen war Jack. Zuerst hatte er ihm den Brief schicken wollen, doch je länger er und Daisy darüber gesprochen hatten, desto fester war ihr Entschluss geworden, dass der Brief persönlich übergeben werden musste. Von ihr. Denn letztendlich war sie diejenige, die sich Jack Parrish stellen musste, und sie war auch diejenige, die ihm das größte Unrecht angetan hatte.
Im Grunde hatten sie nie geplant, Nathan vor Jack geheim zu halten. Ihre Mutter kannte die Wahrheit ebenso wie ihre Schwester. Selbst Nathan wusste Bescheid. Er hatte von Anfang an gewusst, dass er einen leiblichen Vater namens Jackson hatte, der in Lovett in Texas lebte. Sie hatten es ihm erklärt, sobald er alt genug gewesen war, es zu begreifen, doch Nathan hatte nie den Wunsch geäußert, Jack kennen zu lernen. Steven hatte ihm als Vater genügt.
Es war Zeit. Allerhöchste Zeit, Jack wissen zu lassen, dass er einen Sohn hatte. Ein Stöhnen entrang sich ihrer Kehle, und sie nahm rasch einen Schluck Kaffee. Ein fünfzehnjähriger Sohn mit einem froschgrünen Irokesenschnitt, gepiercter Lippe und mit so vielen Hundeketten behängt, dass man glauben konnte, er wäre in ein Tierheim eingebrochen.
Nathan hatte es in den vergangenen zweieinhalb Jahren weiß Gott nicht leicht gehabt. Als Steven die tödliche Diagnose
bekam, gab man ihm noch fünf Monate. Er lebte noch zwei Jahre, die jedoch nicht einfach gewesen waren. Es war schon für sie schwer gewesen zu sehen, wie Steven um sein Leben rang, für Nathan jedoch die reinste Hölle. Und so ungern sie es sich eingestand, hatte es doch auch Zeiten gegeben, in denen sie ihren Sohn vernachlässigte. An manchen Abenden hatte sie erst wenn er nach Hause kam überhaupt bemerkt, dass er ausgegangen war. Bei diesen Gelegenheiten kam er zur Tür herein, und sie schimpfte, weil er ihr nicht gesagt hatte, wohin er ging. Dann sah er sie mit seinen klaren blauen Augen an und antwortete: »Ich hab dir doch gesagt, dass ich zu Pete gehe. Du hast es erlaubt.« Und sie musste zugeben, dass das durchaus möglich war, sie aber nur Stevens nächste Medikamentengabe oder die nächste Operation im Sinn gehabt hatte – oder vielleicht war es gerade der Tag gewesen, an dem Steven die Fähigkeit verloren hatte, einen Taschenrechner zu bedienen, Auto zu fahren oder sich die Schuhe selbst zuzubinden. Zusehen zu müssen, wie Steven um seine Würde kämpfte, während er versuchte, sich an einfachste Dinge zu erinnern, die er seit seinem vierten Lebensjahr beherrscht hatte, brach ihr das Herz. Es kam vor, dass sie ganze Sequenzen ihrer Gespräche mit Nathan völlig vergaß.
Der Tag, an dem Nathan mit diesem Irokesenschnitt nach Hause kam, hatte sie jedoch wachgerüttelt. Plötzlich war er nicht mehr der kleine Junge gewesen, der Fußball spielte, American Football liebte und mit seiner Schmusedecke auf dem Sofa zusammengerollt Kindersendungen im Fernsehen ansah. Das Erschreckendste daran war nicht einmal die Haarfarbe gewesen, sondern der verlorene Ausdruck in seinen Augen. Sein leerer, haltloser Blick hatte sie aus der Depression und aus ihrem Kummer gerissen, von
denen sie nicht einmal gewusst hatte, dass sie sie fast sieben Monate nach Stevens Tod noch immer fest im Griff hatten.
Steven lebte nicht mehr. Sie und Nathan würden seinen Verlust immer spüren, so als würde ein Stück ihrer Seele fehlen. Er war ihr bester Freund und ein guter Ehemann gewesen. Er war die starke Schulter, der Trost, jemand, der ihr Leben schöner gemacht hatte. Einfacher. Er war ein liebevoller Ehemann und Vater gewesen.
Sie und Nathan würden ihn nie
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