Eragon 04 - Das Erbe Der Macht
Merkwürdigkeit in einer ansonsten klaren Umgebung. Ein Geheimnis, das sie lösen wollte, auch wenn der Versuch wahrscheinlich nutzlos war.
Sie fragte sich, wer für den vorbildlichen Zustand der Nägel verantwortlich war. Der Mann selbst? Er schien nicht übermäßig pingelig zu sein, aber sie konnte sich auch nicht vorstellen, dass er eine Ehefrau, Tochter, Dienerin oder sonst jemand Nahestehenden hatte, der solche Aufmerksamkeit auf seine Fingernägel verwendete. Natürlich wusste sie, dass sie sich irren konnte. So mancher von Narben bedeckte Veteran – grimmige, wortkarge Männer, deren einzige Liebe Wein, Weib und Krieg zu sein schien – hatte sie mit irgendeiner Seite seines Charakters überrascht, die überhaupt nicht zu seiner äußeren Gestalt passte: ein Talent für Holzschnitzerei, eine Neigung, romantische Gedichte auswendig zu lernen, eine Schwäche für Bücher oder die aufopferungsvolle Hingabe an eine Familie. Dinge, die die Krieger vor dem Rest der Welt verborgen hielten. Es waren Jahre vergangen, bevor sie erfahren hatte, dass Jör…
Sie brach den Gedanken ab, bevor er weiterführte.
Auf jeden Fall war es eine ganz einfache Frage, die sie in Gedanken wieder und wieder wälzte: Warum? Motive waren verräterisch, selbst wenn es um solche Kleinigkeiten wie Fingernägel ging.
Wenn die Nägel das Werk einer anderen Person waren, dann waren sie entweder ein Zeichen großer Liebe oder großer Furcht. Aber sie bezweifelte, dass das der Fall war. Irgendwie fühlte es sich nicht richtig an.
Wenn sie stattdessen das Werk des Mannes selbst waren, dann waren alle möglichen Erklärungen denkbar. Vielleicht stellten seine Fingernägel eine Möglichkeit dar, ein Mindestmaß an Kontrolle über ein Leben zu behalten, über das er sonst nicht mehr bestimmen konnte. Oder vielleicht hatte er das Gefühl, dass sie der einzige Teil seiner selbst waren, der attraktiv war oder sein konnte. Oder vielleicht war die Nagelpflege lediglich ein nervöser Tick, eine Angewohnheit, die keinen anderen Zweck erfüllte, als sich die Zeit zu vertreiben.
Wie immer die Wahrheit aussehen mochte, fest stand, dass irgendwer seine Fingernägel gesäubert, geschnitten, gefeilt und geölt hatte und dabei keineswegs nachlässig oder unaufmerksam gewesen war.
Sie grübelte weiter über die Angelegenheit nach, während sie aß, doch sie schmeckte ihr Essen kaum. Gelegentlich sah sie auf, um in dem massigen Gesicht des Mannes nach dem einen oder anderen Hinweis zu suchen, aber stets ohne Erfolg.
Nachdem er sie mit dem letzten Stück Brot gefüttert hatte, stemmte sich der Mann von der Kante der steinernen Liege hoch, nahm die Platte und wandte sich ab.
Sie kaute und würgte das Brot hinunter, so schnell es ging, ohne sich zu verschlucken. Dann sagte sie mit einer Stimme, die heiser und rau war, weil sie sie schon so lange nicht benutzt hatte: »Du hast schöne Fingernägel. Sie glänzen so …«
Der Mann erstarrte mitten im Schritt und drehte seinen großen, schweren Kopf in ihre Richtung. Einen Moment lang dachte sie, dass er sie vielleicht wieder schlagen würde, doch dann teilten seine grauen Lippen sich langsam, er lächelte sie an und zeigte dabei sowohl die obere als auch die untere Reihe seiner vorstehenden Zähne.
Sie unterdrückte ein Schaudern. Er sah aus, als würde er einem Huhn den Kopf abbeißen wollen.
Noch immer mit demselben beunruhigenden Gesichtsausdruck entfernte sich der Mann aus ihrem Blick und einige Sekunden später hörte sie, wie die Tür zu ihrer Zelle geöffnet und wieder geschlossen wurde.
Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Stolz und Eitelkeit waren also seine Schwächen, die sie ausnutzen konnte. Wenn es eine Fähigkeit gab, die sie besaß, dann die, andere ihrem Willen zu unterwerfen. Der Mann hatte ihr eine winzige Handhabe geliefert – eigentlich eine Fingerhabe , oder noch genauer, nur eine Fingernagelhabe – aber das war alles, was sie brauchte. Jetzt musste sie sie nur noch nutzen.
DIE HALLE DER WAHRSAGERIN
A
ls der Mann das dritte Mal kam, schlief Nasuada. Bei dem Geräusch der Tür, die aufgestoßen wurde, erwachte sie jäh und mit klopfendem Herzen.
Sie brauchte einige Sekunden, um sich daran zu erinnern, wo sie war. Als sie es wieder wusste, runzelte sie die Stirn, blinzelte und versuchte, die Augen aufzubekommen. Sie wünschte, sie hätte sie sich reiben können.
Die Falten auf ihrer Stirn vertieften sich, als sie an sich hinunterblickte und sah, dass noch immer eine kleine
Weitere Kostenlose Bücher