Erben der Macht
misstrauisch an. „Was soll das heißen?“
„Dass viele Dinge relativ sind und nicht immer so, wie sie zu sein scheinen. Auch in jedem ganz normalen Menschen steckt die Veranlagung zum Bösen, und in Dämonen steckt auch die Veranlagung zum Guten. Aber es ist der Wille, der entscheidet, ob ein Wesen das eine oder das andere tut. Und darin wiederum sind wir alle Produkte unserer Umwelt, unserer Kultur, unserer Sozialisation.“
„Soll heißen?“
„Dass du deine dämonische Hälfte kennenlernen musst, bevor du sie akzeptieren kannst. Dass du deinen Vater kennenlernen musst, weil dieser Teil von ihm stammt.“
Sie hob abwehrend die Hände. „Danke, den Kerl habe ich genug kennengelernt.“
Nalin schüttelte den Kopf. „Nicht mal im Entferntesten. Du kennst nur Bruchstücke, Schlaglichter aus seinem Leben.“ Er beugte sich vor. „Wie würde wohl ein Mensch dich beurteilen, wenn das Einzige, was er je von dir gesehen hätte, der Moment wäre, in dem du damals am Teich hinter eurem Haus in Dunraven einem Frosch bei lebendigem Leib die Gliedmaßen ausgerissen und ihn danach ertränkt hast?“
Bronwyn fühlte, dass sie errötete. „Damals war ich ein Kind! Noch nicht mal sechs Jahre alt!“
Und sie hatte sich nicht erklären können, warum sie den Frosch gequält hatte. Es war ihr einfach ein Bedürfnis gewesen. Das ihr Adoptivvater ihr drastisch ausgetrieben hatte, der sie beim letzten Akt der Froschhinrichtung erwischt hatte, indem er so fest an ihren Armen riss, dass es furchtbar weh getan hatte und ihr ruhig, aber ernst gesagt hatte, dass der Frosch dieselben Schmerzen empfunden hatte und dass sie niemals einem anderen Wesen absichtlich Schmerzen zufügen dürfe. Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu! , war seitdem ein Motto gewesen, das er und ihre Adoptivmutter ihr von da an immer wieder vorgebetet hatten, bis sie es verinnerlicht hatte. Woher wusste Nalin von dem Ereignis? Richtig, er hatte sie ihr Leben lang mehr oder weniger sporadisch beobachtet.
Der Naga nickte. „Genau das meine ich. Du bist damals deinem dämonischen Instinkt gefolgt. Jeder, der das und nur das gesehen hätte, hätte dich für einen furchtbar schlechten Menschen gehalten, der du nicht bist. Obwohl diese Veranlagung durchaus immer noch in dir steckt. Verstest du?“
Bronwyn nickte langsam. „Du willst also damit sagen, dass auch Mokaryon“, sie blickte ihn fragend an, „seine, eh, guten Seiten hatte?“
Nalin neigte zustimmend den Kopf.
Das klang unglaublich.
„Als sein Berater habe ich Mokaryon sehr gut gekannt. Es verging kaum ein Tag, an dem er sich nicht mit mir beraten hat.“
Bronwyn schüttelte den Kopf. „Um möglichst effektiv Menschen ausbeuten zu können. Als ob er nicht genug gehabt hätte mit all dem Reichtum, den er angehäuft hat.“
Nalin neigte wieder den Kopf. „Er war Dämon. Das war seine Natur. Eine Katze tötet, um zu leben. Aber sie spielt manchmal mit ihrer Beute, bevor sie sie tötet. Das ist keine bewusste Grausamkeit, sondern ein natürlicher Instinkt, mit dem sie ihre Jagdtechniken trainiert. Auch das, was Mokaryon aus menschlicher Sicht an Grausamkeiten begangen hat, hat er getan, weil er sich von den dadurch in seinen Opfern erzeugten Emotionen wie Angst, Schmerz und Hass ernährt hat. Die Natur hat ihn und seinesgleichen so erschaffen. Und die Natur, die in solchen Dingen auch in der Unterwelt Gültigkeit hat, kennt weder Gut noch Böse.“
Bronwyn blickte ihn aufmerksam an. „Aber ist die Natur in der Unterwelt nicht völlig anders als die hier?“
Nalin wiegten den Kopf. „In gewisser Weise und doch wieder nicht. Was ist das machtvollste Instrument der Natur?“ Er blickte Bronwyn auffordernd an.
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich würde sagen, dass sie sich immer wieder durchsetzt. Überlebt, sozusagen.“
„Das auch. Aber es gibt noch ein wichtigeres Instrument: die Evolution. Der Mensch Charles Darwin hat ihre Gesetzmäßigkeit begriffen: dass die Spezies überlebt, die am besten an ihre Umwelt angepasst ist. Ich versichere dir, dass die Umwelt der Unterwelt völlig anders ist als in dieser Welt.“
„Ohne jeden Zweifel“, stimmte Bronwyn zu.
„In der Unterwelt existieren mehr unterschiedliche Dimensionen – Biotope, wenn du so willst – und entsprechend mehr an sie angepasste und deshalb völlig voneinander verschiedene Arten von Dämonen, als es Völker in dieser Welt gibt. Selbst wenn wir jeden Naturvolkstamm oder Indianerstamm
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