Erben des Blutes 01 – Dunkler Fluch
Zimmer – Jadens Zimmer – herüberdrangen.
Vielleicht würde er sie hinauswerfen. Vielleicht hatte er die Tür von innen zugesperrt, und ihr Versuch war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Dennoch, der Versuchung, ein bisschen Ablenkung zu finden, konnte sie einfach nicht widerstehen.
Lily ging zur Tür, die die beiden Zimmer miteinander verband, und drehte leise und langsam den Knauf.
Sie brauchte die Tür nur wenige Zentimeter zu öffnen, um zu sehen, dass Jadens Zimmer das Spiegelbild ihres eigenen war: klein, zweckmäßig eingerichtet, erhellt von einer Kerze, keine Fenster. Mitten im Zimmer stand ein Mann, der lediglich eine verwaschene Jeans trug. Er drehte Lily den Rücken zu und wühlte in einer kleinen Tasche herum, die auf dem Bett stand. Seine Füße und sein Oberkörper waren nackt. Lily wusste allein anhand seines Körperbaus und seiner pechschwarzen Haare, dass es sich um Jaden handelte.
Aber nichts, was sie über ihn wusste, nichts, was er gesagt oder getan hatte, hätte sie auf den Schock beim Anblick seiner nackten Haut vorbereiten können.
Sein Rücken war mit Narben übersät, manche bereits verblasst, andere noch ganz rosa. Die kreuzweise Anordnung ließ nur einen Rückschluss zu: Er war ausgepeitscht worden. Kaum eine Stelle seiner hellen Haut war verschont geblieben, und Lily konnte sich nicht mal ansatzweise vorstellen, welche Schmerzen er hatte aushalten müssen. Kein Wunder, dass er Ty gegenüber so verschlossen und seltsam gewesen war; kein Wunder, dass er den Ptolemy davongelaufen war.
Lily brauchte nur an diese Dynastie zu denken, schon gefror ihr das Blut in den Adern. Nur ein Monster würde anderen Wesen so etwas antun. Und Ty brachte sie zu genau den Monstern, die dafür verantwortlich waren. Zum ersten Mal fragte sie sich, wie viel Tys Versprechen wohl wert sein mochte, nicht von seiner Seite aus, sondern von der Seite derjenigen, die ihm dieses Versprechen an sie zugestanden hatten. Wenn diese Ptolemy so etwas sogar ihren eigenen Leuten antaten, würden sie dann ihr Wort halten und sie gehen lassen?
»Es ist unhöflich, jemanden so anzustarren.« Jadens Stimme, leise aber eindringlich, ließ sie zusammenfahren.
»Äh … tut mir leid, ich war nur …«
Als er sich zu ihr umdrehte, war ihm nicht die geringste Überraschung anzumerken. Er wirkte einfach nur resigniert und gequält, aber so sah er eigentlich schon die ganze Zeit aus. Wenigstens wusste sie jetzt, warum, aber das Wissen allein machte es auch nicht besser.
»Nein«, sagte er, deutlich freundlicher jetzt. »Ich hatte gehofft, dass ich dich noch sehe, bevor … komm doch einfach rein.« Er winkte sie herein und kramte dann weiter in seiner Tasche. »Der Tag bricht bald an, und ich muss vorher noch hier wegkommen.«
Lily starrte ihn ungläubig an. »Du gehst? Jetzt?«
»Wenn man fliehen will, ist das die beste Zeit. Kurz bevor die Sonne aufgeht. Man muss sich nur vorher drum kümmern, wo man als Nächstes Unterschlupf findet und dass es nicht zu weit weg ist. Aber ich habe Kontakte. Wenn du willst, kannst du mitkommen.«
Sein angedeutetes, fast ein wenig ironisches Lächeln zeigte ihr, dass er genau wusste, sie würde nicht mit ihm davonlaufen. Allerdings war sie sich sicher, dass die Einladung vollkommen ernst gemeint war.
»Warum haust du ab?«, fragte sie. »Ich dachte, du wolltest uns helfen.«
»Wobei soll ich helfen? Anura ist zu den Dracul übergelaufen. Keine Ahnung, warum, aber das ist ihr gutes Recht. Also wäre es bescheuert, in die Wohnung zurückzukehren. Irgendjemand wird dort auf uns warten und garantiert niemand, dem wir gern begegnen möchten. Ty gibt die Hoffnung nicht auf, dass er von den Ptolemy für das, was er für sie tut, Anerkennung bekommt und für uns andere Katzen dabei auch noch der eine oder andere Knochen abfällt. Schön wär’s, aber das ist nur ein Tagtraum. Und du …« Er legte den Kopf auf die Seite und musterte sie.
Es war entnervend, wie er sie anstarrte, ähnlich wie bei Ty. Lily wurde bewusst, dass auch Jaden umwerfend gut aussah. Allerdings lächelte er noch seltener als Ty. Diese Cait Sith hatten wirklich kein leichtes Leben. Sie hätte ihnen so gern geholfen, aber es gab nichts, was sie hätte tun können.
»Spreng seine Ketten …« , flüsterte die Stimme der Priesterin in ihrem Kopf.
Aber wie? Eine ganze Dynastie aus der Sklaverei zu befreien, war nichts, was ein Einzelner schaffen konnte. Und schon lange kein einzelner Mensch.
»Ich kann dich irgendwie
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