Erben des Blutes 01 – Dunkler Fluch
Kopf ein Film ablaufen und sie sei nur die Zuschauerin. Genau wie sie nur hatte zusehen können, wie die Dinge ihren Lauf nahmen, während jemand anders das Steuer an sich riss.
Das war noch erschreckender als die Kraft selbst.
Und irgendwie wusste sie, wenn sie Ty alles erzählte, würde er genauso auf Abstand zu ihr gehen wie ihre Familie. Sie wusste nicht, ob ihre Eltern jemals fähig gewesen wären, sie zu lieben, und sie war alt genug, um das Ganze rückblickend relativ gelassen zu sehen. Aber dadurch, dass sie damals ihr Kinderzimmer verwüstet hatte, hatte sie sich der Chance beraubt, dass ihre Eltern sie eines Tages wider Erwarten doch schätzen gelernt hätten.
Plötzlich packte sie das schier unwiderstehliche Bedürfnis, einfach davonzulaufen, und sie konnte es nur mühsam unterdrücken.
»Wieso vergessen wir das nicht einfach?«, fragte sie rasch. Daran, wie Ty die Augen zusammenkniff, merkte sie, dass er ihre Frage falsch verstanden hatte. »Ich meine, diesen Aspekt des Ganzen«, korrigierte sie sich. »Anura ist eingeknickt, und wenn wir in Chicago bleiben, werden sie uns aufmischen. Wieso gehen wir nicht einfach zu deiner Königin und bringen es hinter uns? Ich nehme an, Damien schafft es nicht, in ihren Hof zu kommen. Auf die eine oder andere Art wird sich schon rausfinden lassen, wer für die Massaker an den Ptolemy verantwortlich ist, jedenfalls wenn mir irgendjemand beibringt, wie ich sehe, was ich sehen soll. Was dann hoffentlich auch klappt. Und dann fahre ich nach Hause.« Sie lächelte ihn an, auch wenn ihr das schwerfiel. »Vielleicht können wir uns mal zusammen einen Film ansehen. Oder zusammen essen. Gern nach Einbruch der Dunkelheit, falls du dann noch Lust hast, mich zu sehen.«
Die tiefe Sehnsucht in seinen Augen, fremd und vertraut zugleich, verschlug ihr schier den Atem.
»Lily …«, hob er an.
So viel Sehnsucht und so viel Bedauern, wie in diesem einen Wort mitschwangen, waren ihr noch nie untergekommen. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie wusste, wie er fortfahren würde: dass sie das Jetzt genießen sollten, weil man ihm mehr nicht zugestehen würde. Im Stillen verfluchte sie die Blaublute dafür, wie sie ihr Gesellschaftssystem gestaltet hatten, feudalistisch wie in uralten Zeiten. Sie brauchte kein Vampir zu sein, um sich vorstellen zu können, dass sich ein Unterschichtvampir gegen dieses System auflehnte. Entweder im Kleinen, zum Beispiel mit der Schaffung Sicherer Häuser, oder gleich im großen Stil, indem man ein gewalttätiger und amoralischer Shade wurde.
Ihre eigene Abstammung hatte ihr in ihrer Jugend auch oft genug im Weg gestanden. Und jetzt sah es so aus, als würde ihr wegen Tys Abstammung der einzige Mann vorenthalten werden, mit dem sie jemals eine derart innige Verbindung gespürt hatte. Sie hätte sofort dagegen angekämpft, wenn sie nur gewusst hätte, wie.
Er strich ihr über den Handrücken, eine zärtliche Geste, die sie am ganzen Körper erschauern ließ.
»Lily«, wiederholte er. »Ich …«
Es klopfte an der Tür, und sie zuckten beide erschrocken zusammen.
Tys Kopf fuhr herum. »Wer ist da?«, fragte er ungehalten, und Lily wusste, dass der Moment unwiderruflich vorbei war.
»Ich bin’s, Jaden«, ertönte die vertraute Stimme. Obwohl es nur drei Worte waren, hörte Lily die Spannung, die darin lag.
»Rogan will dich sprechen. Und er hat einen ziemlich … seltsamen Begleiter dabei, mit dem du vermutlich gern reden würdest.«
Fragend sah Lily Ty an, der genauso verblüfft wirkte wie sie selbst. Er schüttelte den Kopf.
»Würdest du das bitte mal genauer ausführen?«
Gereizt antwortete die Stimme: »Nein. Ich denke, du solltest einfach runterkommen. Rogan ist ungeduldig, und du weißt ja, wie er dann immer auf und ab rennt. Er treibt mich in den Wahnsinn, wozu es gerade nicht viel braucht. Komm einfach runter.«
Dann war es wieder still. Jaden war offensichtlich genauso schnell verschwunden, wie er aufgetaucht war. Erst jetzt fiel Lily auf, dass Tys Hand noch immer auf ihrer lag, und das fühlte sich außerordentlich beruhigend an.
»Jetzt weißt du über mich Bescheid«, sagte sie, weil sie das Gefühl hatte, dass dies ihre letzte Chance war, das Thema noch einmal anzuschneiden. »Wirst du mir jemals erzählen, was mit dir geschehen ist?«
»Das spielt keine Rolle. Das liegt lange zurück.« Sanft drückte er ihre Hand, aber sie spürte, wie er sich verschloss, und hätte vor Enttäuschung am liebsten losgeheult. Näher würde er
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