Erben des Blutes: Verborgene Träume (German Edition)
offensichtlich keine entsprechende Aussage von ihr erwartete und auch kein entsprechendes Gefühl. Sie wusste nicht, was sie fühlte oder wie sie sich fühlen würde, wenn sie das ganze Ausmaß der Geschehnisse erst mal richtig begriff. Sie wusste nicht mal, ob das Paarungsmal an ihrem Arm noch irgendeine Bedeutung für sie haben würde, denn im Moment spürte sie so gut wie gar nichts außer einem undefinierbaren Schmerz, der sich tief in ihre Seele eingegraben hatte.
Nachdem sie ihr Leben lang gegen Grenzen angekämpft hatte, die sich oft kaum hatten verschieben lassen, war sie jetzt endlich vollkommen frei, zu tun und zu lassen, was sie wollte. Aber jetzt, wo ihr gesamtes Leben zusammengebrochen war und ihre Träume sich in Luft aufgelöst hatten, wusste sie nicht mehr, was sie wollte.
In Tipton war alles ruhig. Sie fuhren zu der Villa, die jetzt der Sitz der Lilim war. In dem Städtchen war selbst am Tag nicht viel los, daran erinnerte Lyra sich noch gut, und an einem Dienstag um Mitternacht war auf den leeren Straßen nur ganz gelegentlich ein Auto unterwegs. Jaden fuhr auf den kleinen Parkplatz neben dem Gebäude, das, wie Lyra wusste, bis vor ein paar Jahren noch die Historische Gesellschaft des Bezirks beherbergt hatte.
Er stellte den Motor ab und blieb einen Moment reglos sitzen, als warte er, dass Lyra irgendwie aus dem gespenstischen Zustand erwachte, in dem sie sich seit ihrer Vertreibung befand. Lyra versuchte, ihm in die Augen zu schauen, aber es gelang ihr nicht. Er sah zu viel. Ihre Selbstbeherrschung war nicht mehr die beste, und sie konnte sich nicht sicher sein, was aus ihr heraussprudeln würde. Die Sorgen, der Stress, wenig Schlaf – das alles forderte seinen Tribut. Sie trug noch immer dieselbe Kleidung wie in Silver Falls, nur dass sie jetzt zerknittert und verschmutzt war. Ihre Augen fühlten sich trocken und entzündet an. Immerhin waren ihre Haare frisch gewaschen, dank eines Haarwaschmittels, das sich im Hotelzimmer befunden hatte, und sie hatte sie nach der Wäsche achtlos zu einem Knoten hochgesteckt.
Sie hatte keine Ahnung, wie sie aussah – gut sicher nicht.
Im Moment war ihr das völlig egal.
»Lily und Ty sind großartige Leute«, sagte Jaden. »Sie werden nicht zu viele Fragen stellen, und sie werden auch nicht beleidigt sein, wenn du auf irgendwas nicht antworten willst. Aber … irgendwann demnächst solltest du mal mit jemandem reden, Lyra. Derjenige muss ja nicht unbedingt ich sein.«
Sie nickte. Dann drang auf einmal ein bedrohlicher Gedanke in den Kokon ein, in den sie sich eingesponnen hatte. Erwartete er etwa, dass sie bei ihm blieb? Wenn sie bei ihm blieb, würde er mitbekommen, wie sie zusammenbrach. Dabei sollte sie doch stark und unabhängig sein. Wenn er ihr seine Schulter anbot und sie dieses Angebot annahm, dann würde er vielleicht sehen, dass sie wirklich so schwach war, wie ihre Gattung sie eingeschätzt hatte.
Aber allein zu sein – der Gedanke machte ihr noch mehr Angst.
»Du bleibst bei mir, Lyra. Zumindest vorläufig. Wenn du willst, kann ich auf dem Boden schlafen, das ist mir egal. Aber ich werde dich nicht aus den Augen lassen.«
Sie war hin- und hergerissen zwischen Erleichterung und Ärger, dass ihr die Entscheidung einfach abgenommen wurde. Dabei wollte sie eigentlich gerade nicht allein sein … aber sie wollte sich auch nicht sagen lassen müssen, was sie zu tun hatte. Verwirrt und erschöpft wie sie war, richtete sich ihr ganzer Zorn gegen Jaden.
»Du bist nicht mein Chef. Hör auf, mich rumzukommandieren.«
Jaden starrte sie durchdringend an. »Ich habe versprochen, mich um dich zu kümmern, also tue ich das auch. Du brauchst jemanden, der ein bisschen nach dir schaut, Lyra, auch wenn du das nicht wahrhaben willst. Die letzte Nacht war für uns beide verdammt anstrengend, also hör auf, so stur zu sein, und nimm meine Unterstützung einfach an, okay?«
Er seufzte und fuhr sich mit der Hand durch das Haar. Lyra fühlte sich plötzlich schuldig. Er war ihr ein großer Trost gewesen, und sie hatte ihn entweder stundenlang ignoriert oder ihn gereizt angefaucht. Es würde sie nicht umbringen, wenigstens ein bisschen Dankbarkeit zu zeigen. Das war alles nicht seine Schuld, es sei denn, sie wollte ihm zum Vorwurf machen, dass er einfach zu attraktiv war.
»Es … es tut mir leid. Ich bleibe bei dir. Danke.«
Sie wusste, das klang ziemlich steif, aber etwas Besseres brachte sie gerade nicht zustande. Sie hoffte, sie würde endlich schlafen
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