Erben des Blutes: Verborgene Träume (German Edition)
genoss sie es, auf allen vieren dahinzulaufen, wenn der Mond hoch oben am Himmel stand.
Außerdem liebte sie ihr Rudel. Es war ihre Familie, auch wenn sie nicht zu allen eine enge Beziehung hatte. Eine Reihe Frauen hatte nach dem Tod ihrer Mutter geholfen, Lyra großzuziehen, und zu diesen Frauen konnte sie auch heute noch mit Problemen gehen, mit denen sie ihrem mürrischen Vater nicht zu kommen brauchte. Die meisten im Rudel mochten sie, das wusste sie genau.
Auch wenn viele von ihnen glaubten, sie habe den Verstand verloren, sei selbstmordgefährdet oder beides zugleich.
Sie senkte den Blick und zupfte an der Bettdecke herum. »Ich will nicht weg von hier, Dad.«
»Dann bleib! Wenn du dich weiter so rumtreibst, wird dir irgendwann noch was zustoßen. Ich versuche, hier alles möglichst seinen normalen Gang gehen zu lassen, Lyra. Die Thorn haben hart gegen das Image der wilden Bestie angekämpft. Aber einigen deiner Verehrer ist nun mal jedes Mittel recht, dich zu erobern, und das weißt du ganz genau.«
Sie verdrehte die Augen. So waren ihre Auseinandersetzungen in letzter Zeit jedes Mal abgelaufen. »Dad, aus jedem Rudel im Osten der Vereinigten Staaten sind sogenannte Verehrer hinter mir her. Einige von ihnen haben sich hier, auf unserem eigenen Territorium, ganz schön aggressiv aufgeführt. Und außerhalb erst recht«, fügte sie hinzu, weil ihr Mark wieder eingefallen war. Sein Rudel lebte auf dem Territorium, das an das ihres Rudels angrenzte, und von Zeit zu Zeit trafen sich die beiden Gruppen. Lyra hoffte, sie müsse Mark nie wiedersehen, aber so viel Glück würde sie kaum haben.
Sofort erwachte Doriens Beschützerinstinkt. »Wer –?«
»Ist doch egal«, unterbrach Lyra ihn. Doriens Gesichtsausdruck besagte eindeutig, dass er das ganz anders sah, aber Lyra hatte keine Lust, ins Detail zu gehen. Stattdessen fuhr sie fort: »Ich habe keinen Bock auf irgend so einen dahergelaufenen Idioten, der mich nur will, weil ich die Tochter eines Alphatiers bin, Dad. Ich sehe nicht ein, wieso ich die Eintrittskarte für jemanden sein sollte. Zumal ich die beste Kandidatin bin, die dieses Rudel hat, wenn es um deine Nachfolge geht. Du hast dich zwar geweigert, mir alles Nötige beizubringen, aber ich habe trotzdem von dir gelernt.«
Dorien strich ihr eine ihrer widerspenstigen Locken hinter das Ohr, und bei dieser zärtlichen Geste hätte sie am liebsten losgeheult. Sie wusste, dass dies alles zu viel für ihn war. Aber wenn sie antrat, würde Eric mit Sicherheit das neue Alphatier des Rudels werden. Ihr Vater war zwar konservativ und altmodisch, konnte sich aber wenigstens gelegentlich für neue Ideen begeistern; ihr Cousin dagegen war ultrakonservativ, ein autoritärer, puritanischer Eigenbrötler, der zum Lachen in den Keller ging.
Er würde die Thorn nicht voranbringen – im Gegenteil, er würde sie um mindestens hundert Jahre zurückwerfen. Diese Vorstellung konnte Lyra nicht ertragen, zumal sie selbst so viele Ideen hatte, wie man die Thorn ins 21. Jahrhundert führen konnte – auch wenn diese sich mit Händen und Füßen dagegen wehren würden. Sich anpassen oder aussterben – etwas anderes gab es nicht. Leider war das Rudel in den letzten Jahren geschrumpft, und so wurde über die Möglichkeit des Aussterbens manchmal schon hinter vorgehaltener Hand geflüstert.
Irgendwann muss es einfach ein weibliches Alphatier geben, dachte Lyra. Eine neue Stimme, eine neue Sichtweise. Wieso also nicht hier?
Wieso nicht sie?
Zu dem Thema schien sich ihr Vater ebenfalls eine Menge Gedanken gemacht zu haben.
»Ich bitte dich zum letzten Mal, Lyra. Zieh deine Bewerbung zurück. Es ist keine Schande, von der Prüfung zurückzutreten. Ehrlich gesagt weiß ich nicht mal, ob die männlichen Bewerber bereit sind, gegen dich anzutreten.«
»Das müssen sie«, erwiderte Lyra. »Ich habe es in den Geschichtsbüchern nachgelesen. Ich muss genau wie jeder männliche Kandidat behandelt werden.«
Doriens Augenbrauen schossen in die Höhe. »An die Stelle kann ich mich gar nicht erinnern. Allerdings ist es auch eine Zeit her, seit ich da zuletzt reinschauen musste. Wann wurde das geschrieben?«
Lyra spürte, wie ihre Schultern nach unten sackten, und zwang sich, den Rücken durchzudrücken. »1759. Das Rudel der Broken Arrow. Damals nahm eine Wölfin an der Prüfung teil.«
»Und?«
»Und … nun ja, sie konnte sich nicht durchsetzen, aber sie ist ziemlich weit gekommen.«
Sofort stürzte er sich auf das, was sie nicht
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