Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
Madeleine.
Rachel schüttelte den Kopf. »Ach, nichts. Ich melde mich bald wegen des Passes. Ich verspreche es Ihnen.«
»Was soll ich …« Aber Rachel hatte bereits die Tür geschlossen.
Madeleine ging durch das Gartentor, stand einen Augenblick bestürzt auf der Straße und überlegte, in welche Richtung sie gehen sollte. Rechter Hand, ein wenig weiter, sah sie ein altes Schwingtor, das in den Park führte. Sie schritt hindurch.
Sie tastete nach dem Pass in ihrer Handtasche. Ursprünglich hatte sie vermutet, Rachel hätte ihn ihr zur Aufbewahrung geschickt, aber offensichtlich war er von einer dritten Person gekommen, von jemandem, der sie nicht kannte und ihren Namen nicht buchstabieren konnte, aller Wahrscheinlichkeit nach von jemandem aus dem Ausland. Sie hätte Rachel fragen können, was das zu bedeuten hatte, wer dieser Mensch war, der nun wusste, wo sie arbeitete. Der Gedanke erfüllte sie plötzlich mit Unbehagen. Noch konnte sie umkehren und Rachel fragen. Oder sie konnte den verdammten Pass durch den Briefkastenschlitz schieben.
Aber sie tat keines von beidem.
Im Park gab es einen verlassenen Spielplatz. Die Anlage schien hauptsächlich von Hundebesitzern genutzt zu werden. Drei Hunde von undefinierbarer Rasse jagten einander, während ihre Besitzer nach ihnen riefen. Eine Frau hatte zwei Westies an der Leine, die sie ängstlich in einem weiten Bogen um die Balgerei herumführte. Madeleine presste ihre Handtasche fest gegen ihren Körper und überquerte den Rasen.
Am anderen Ende des Parks sah sie zwei Gestalten, die vornübergebeugt etwas auf dem Boden zu beobachten schienen. Ein kleiner Junger und ein Teenager. Als sie sich näherte, erkannte sie, dass der Teenager ein Mädchen war. Trotz der Hitze trug es eine wollene Pudelmütze. Madeleine lächelte leise, denn die beiden weckten Erinnerungen in ihr. Die Augen auf die Erde geheftet – so hatte sie ihre Kindheit verbracht.
»Sascha«, schrie das Mädchen plötzlich. »Schau auf die Uhr. Wir müssen los. Deine Mutter kocht heute Nudeln für dich. Wenn wir uns nicht beeilen, sind sie Brei!«
Madeleine blieb stehen. Sascha. Das war er also. Bei diesem Namen konnte es kein anderes Kind sein. Er reagierte nicht. Sein Gesicht war nicht zu sehen, seine Aufmerksamkeit blieb ganz auf den Boden gerichtet.
»Los, komm schon, Sascha. Sei brav. Die gehen nicht weg. Wir können später wiederkommen und sie weiter beobachten. Sascha!«
***
»Komm jetzt rein, Magdalena«, rief Mama durch das Fenster. »Die Dinger sind gefährlich. Sie leben nur einen Tag, weil sie verdammt sind.«
Madeleine versuchte, nicht hinzuhören, wenn Mama verrücktes Zeug redete. Sie beugte sich vor und beobachtete, wie die fliegenden Ameisen nach der Landung starben. Das war ihr Schicksal. Sie erlebte es nicht zum ersten Mal. Die Ameisen flogen für einige Stunden frei und unbeschwert durch die Luft, und dann war es aus. Als sie sah, wie sie gegen den Tod ankämpften, fragte sie sich, ob sie auch kämpfen würde.
»Magdalena!«
***
»Sascha, nun mach schon. Wenn du jetzt nicht kommst, esse ich deine Nudeln ganz alleine.«
Der kleine Junge richtete sich endlich auf und hob den Kopf. Eine Sekunde lang sah er Madeleine in die Augen.
Es läutete hartnäckig. Sie ging nach unten und sah, dass ein Brief unter der Haustür durchgeschoben worden war. Sie bückte sich, um ihn aufzuheben, und öffnete ihn. Der Brief war auf sehr altem Papier, vielleicht sogar Pergament, geschrieben. Er knisterte und riss, als sie ihn auffaltete; fast zerbröselte er.
»Liebe Madeleine Frank,
endlich haben wir Nachricht über Ihre Tochter erhalten. Wir bedauern Ihnen mitteilen zu müssen, dass sie tot ist. Sie kam in einem schrecklichen Sturm ums Leben. Mikaela ist tot, Miss Frank. Deshalb hat sie nie Verbindung zu Ihnen aufgenommen. Sie lebt schon lange nicht mehr. Sie ist zu Staub geworden …«
Der Brief zerfiel in ihrer Hand, und die Türglocke begann aufs Neue zu läuten. Sie eilte, die Tür zu öffnen. Es konnte nur Mikaela sein, um ihr zu sagen, dass es nicht stimmte. Sie musste leben!
Madeleine streckte die Hand zum Türgriff und merkte dann, dass es das Telefon war, das läutete. Sie setzte sich mit einem Schwung auf. Ihr Wecker zeigte zwanzig Minuten vor sieben. So früh am Morgen rief sie normalerweise niemand an. Sie riss den Hörer hoch und krächzte: »Hallo.«
»Miss Frank«, hörte sie eine energische Stimme.
»Am Apparat. Mit wem spreche ich?«
»Mildred Ollenbach von Setton
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