Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
aus, in den Augen saß der Schalk. Sie las den Namen. Alexander Anatoli Iwanenko.
Alexander. Wer zum Teufel war denn das?
Als sie das Foto erneut musterte, erinnerte sie sich, dass sie das Gesicht schon einmal gesehen hatte, auf einem anderen Foto. Dieselben Augen, dasselbe fein geschnittene Gesicht. Es konnte gar nicht anders sein! Sie sah es jetzt, da bestand ohne Zweifel eine Ähnlichkeit. Und war Sascha nicht eine Kurzform von Alexander? Sascha, Rachels Sohn!
Warum um alles in der Welt war Saschas Pass zu ihr geschickt worden, in die Praxis, von jemandem, der sie offenkundig nicht kannte und nicht wusste, wie man ihren Namen schrieb?
Sie ging zu Sylvia und zeigte ihr den Umschlag.
»Sylvia, wissen Sie irgendetwas darüber? Hat jemand angerufen und etwas von einem Pass gesagt?«
»Nein«, meinte Sylvia stirnrunzelnd. »Aber mir fiel ›Madelina‹ auf. Ganz schön frech.« Sie sah Madeleine über den Rand ihrer Brille hinweg an. »Haben Sie einen Antrag auf Namensänderung gestellt?«
Madeleine musterte noch einmal die Handschrift, dann wandte sie sich zu Sylvia und blinzelte verschwörerisch. »Madelina ist mein Künstlername.«
»Was?«
Madeleine lehnte sich über den Schreibtisch und flüsterte: »Sie wissen schon – Lap-dancing.« Sie faltete den Umschlag zusammen und sah auf ihre Uhr. »Und wo bleibt Emilia Fredriksdottir?«
Madeleine ging eilig die London Road entlang und bog dann in eine schmale, steil ansteigende Straße in Richtung Fairfield Park ein. Ein verrostetes Eisengeländer trennte den Gehsteig von der Straße. An manchen Stellen war der Asphalt abgeplatzt, und die Pflastersteine aus vergangenen Zeiten wurden sichtbar. Dafür, dass es erst Mitte Mai und bereits nach sechs Uhr war, herrschte eine erstaunliche Hitze, und Madeleine musste ihre Schritte verlangsamen und sogar einige Male stehen bleiben. Sie spürte, wie der alte Bruch in ihrem Knöchel pochte. Ihre Kondition hatte in den vergangenen Wochen gelitten. Sie joggte nicht mehr am Kanal entlang, hatte ihre wenigen Yogastunden ganz gestrichen und auch das Seilhüpfen auf der Terrasse vernachlässigt. Und doch stand sie so unter Strom, dass sie keine Minute still sitzen konnte.
Die vergangenen Tage hatte sie, wenn sie nicht in der Praxis war, im Atelier verbracht. Aber ihr Bedürfnis zu malen war mehr als nur eine Ablenkung oder die Kanalisierung überschüssiger Energie. Sie war wie besessen von dem Zwang, das Bild, das sie begonnen hatte, zu Ende zu bringen. Glücklicherweise hatte sie schnell trocknende Acrylfarben statt Öl gewählt, denn so konnte sie Schicht um Schicht auftragen, ohne lange warten zu müssen. Gestern Morgen gegen drei hatte sie letzte Hand an die »Kreuzigung« gelegt. Es war ein ungewöhnlich düsteres Bild, und sie fand es beängstigend, dass es ihrem Unbewussten entsprungen war. Kein Wunder, dass Mama sich Sorgen über fleischfressende Ameisen machte. Sie hatte sie in Madeleines Kopf krabbeln sehen. – Oder hatten etwa Mamas quälende Gedanken sie gezwungen, das Bild zu malen?
Madeleine schritt nun eine breitere, ebene Straße entlang, die sich in einer Kurve um den Hügel zog und an einer Reihe kleiner Läden vorbeiführte. Dann bog sie nach links ab und setzte ihren Anstieg fort. Als sie eine Grünanlage erreicht hatte, blieb sie stehen, um sich zu orientieren. Wenn das Faringdon Park war, hatte sie es bald geschafft. Zum Glück hatte Rachel ihre Adresse in das Anmeldeformular eingetragen. Zehn Minuten später stand sie vor Rachels Haus. Es war das letzte der Reihe und lag am nördlichen Ende von Faringdon Park. Der Blick auf Bath war atemberaubend, aber das Gebäude, ein Zweckbau aus den Sechzigerjahren mit Garage im Untergeschoss, war hässlich. Es sah zudem schrecklich heruntergekommen aus. Die Farbe blätterte von den Fensterrahmen, und das Gartentor baumelte an einer einzelnen Angel.
Der Pass war ihr Vorwand. Drei Tage hatte er in einer Schublade gelegen. Kein Anruf, kein Besuch, um ihn abzuholen. Sie würde ihn Rachel zeigen und sie fragen, warum Saschas Pass in einem Umschlag steckte, der an Madelina Frank adressiert war. vermutlich würde sich dann ein Gespräch darüber entwickeln, warum Rachel die Therapie abgebrochen hatte.
In Wahrheit wollte sie jedoch, in der Hoffnung, damit ihre allerletzten Zweifel zu beseitigen, einen Blick auf Rachel und Sascha werfen.
Sie schritt durch das rostige Gartentor zur Eingangstür und läutete. Durch eine mattierte Scheibe konnte sie undeutlich eine
Weitere Kostenlose Bücher