Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
Hall.«
Madeleine setzte sich auf die Bettkante.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte sie, obwohl sie wusste, dass das nicht der Fall sein konnte.
»Nein, nicht ganz. Mrs Frank hat gestern den ganzen Tag kein Wort gesprochen. Heute Morgen macht sie einen katatonischen Eindruck. Sie reagiert auf nichts, noch nicht einmal auf Schmerz. Dr. Jenkins hat sie untersucht. Er meint, wir sollten einen Krankenwagen rufen, es sei denn, Sie möchten vorher vorbeikommen.«
Madeleine erstarrte, dann ergriff sie Panik. »Könnte sie einen Schlaganfall erlitten haben?«
»Dr. Jenkins ist sich fast sicher, dass sie keinen Schlaganfall hatte.« Mrs Ollenbach zögerte. »Er glaubt … Er ist fast überzeugt, dass ihr Zustand das Symptom einer Verschlechterung ihrer psychischen Erkrankung ist.«
»Mrs Ollenbach, könnte dieses ›Symptom‹ die Reaktion auf eine plötzliche Steigerung der Medikamentendosis meiner Mutter sein?«, fragte Madeleine scharf.
»Das ist höchst unwahrscheinlich. Aber Dr. Jenkins empfiehlt eine Elektroschockbehandlung, und zwar ziemlich rasch, da Ihre Mutter weder isst noch trinkt. Es ist uns gelungen, sie ins Bett zu legen, aber ich kann Ihnen versichern, dass das kein Kinderspiel war.«
»Warten Sie«, bat Madeleine. »Ich komme sofort. Unternehmen Sie nichts, bevor ich da bin.«
Sie sprang aus dem Bett, schlüpfte in ihre Jeans, zog die Bluse vom Vortag über, packte ihre Handtasche, nahm den Autoschlüssel und verließ das Haus. Der Berufsverkehr hatte bereits eingesetzt, und da kein Lüftchen wehte, sammelten sich die Abgase im Talkessel. Zwischen den Fassaden aus Muschelkalkstein stand regungslos die Hitze. Zehn Minuten später, als Madeleine die Stadt hinter sich gelassen hatte, wurde die Luft klarer. Die Sonne lachte trügerisch schön, und die Landschaft glich einem Paradies. Setton Hall war in Licht getaucht, das Laub der Bäume im Park üppig grün.
Madeleine fuhr zum Besucherparkplatz und blieb eine Weile im Auto sitzen, um ihre Gedanken zu ordnen. Konnte Mama ihren Zustand selbst herbeigeführt haben? War sie in der Lage, ihrem Leben aus eigener Kraft ein Ende zu setzen? Fühlte sie sich so unglücklich, dass sie lieber sterben wollte, als fern der Heimat zu sein?
Madeleine stieg aus dem Auto.
Man hatte versucht, dem Zimmer ein spanisches Flair zu verleihen. Madeleines Beitrag waren kubanische Wandbehänge aus Baumwolle in satten Rot-, Gelb- und Purpurtönen gewesen. Ein mexikanischer Perlenvorhang diente als Raumteiler zum Wohnbereich. Hinter einem Paravent war Rosarias Altar verborgen, auf dem der Schrein für Babalú Ayé stand. Wo war er jetzt wohl, fragte sich Madeleine, als sie von der Tür aus den reglosen Körper Rosarias auf dem Bett erblickte.
Ihre Mutter lag steif wie ein Zinnsoldat, die Augen weit geöffnet. Ihre Hände flatterten nicht wie sonst ziellos auf und ab, sondern lagen still. Sie schien sich verändert zu haben, sah gealtert und geschrumpft aus. Auf dem großen Bett wirkte sie wie ein Schatten ihrer selbst. Madeleine sah vor ihrem geistigen Auge ein Hochzeitsbild der schwarzhaarigen jungen Rosaria, auf dem sie bezaubernd schön war. Obwohl klein, wirkte sie sehr sinnlich mit ihrer dunklen Haut in dem schneeweißen Kleid. Wie war es möglich, dass davon nur noch die Gestalt auf dem Bett übrig war? Madeleine wurde sich plötzlich bewusst, dass alle Menschen von diesem Schicksal ereilt werden, auch sie selbst: Sie wurden verbraucht und vertrockneten, bis nur noch eine Hülse von ihnen übrig war. Sie schauderte. Wenn Rosaria starb, würde sie, Madeleine, im ersten Glied stehen. Gleichzeitig gab es jemanden hinter ihr, eine Tochter, wo auch immer sie sich aufhalten mochte. Sie würde ebenfalls die Leiter emporsteigen und vielleicht weitere Generationen nach ihr, Enkel und Urenkel.
Jäh überfiel sie ein Gedanke, der aus dem Nichts zu kommen schien und ihr eine Gänsehaut über den Rücken jagte: Und wenn ihre Tochter tatsächlich bereits tot war? Es konnte sein, dass nach ihr, Madeleine, niemand mehr kam – keine weitere Generation. Der Gedanke war ihr noch nie in den Sinn gekommen. Noch nie! Sie weigerte sich, über diese Möglichkeit nachzudenken. Aus irgendeinem Grund musste sie an den kleinen Sascha denken, wie er im Gras stand und ihr geradewegs ins Gesicht sah. Kaum war seine kindliche Gestalt vor ihr aufgetaucht, verwandelte sie sich in einen großen, gut aussehenden Mann mittleren Alters, der mit trauriger Miene in einer Tür stand – und die verwelkte Frau
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