Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
und reichte ihr das Sweatshirt. »Trockne dich ab und setz dich. Ich habe gerade etwas Kaffee gekocht.«
Sie setzten sich aufs Sofa, einander halb zugewandt. Madeleine wartete angstvoll.
»Ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht«, begann Rachel schließlich. »Ich möchte, dass du Sascha mitnimmst. Du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der ihn in Sicherheit bringen kann. Uri wird kommen. Er wird wissen wollen, wo Anton ist. Er wird mich foltern oder töten und dann Sascha mitnehmen. Falls ich die Polizei rufe und es mir gelingen sollte, ihn verhaften zu lassen, schickt er mir andere Gangster auf den Hals.«
Madeleine rutschte zu ihr und packte ihren Arm. »Dann musst du mitkommen. Ihr kommt beide mit. Wir verschwinden von hier. Wenn du in einer solchen Gefahr schwebst, fahre ich nicht ohne dich.«
Rachel riss sich los. »Nein! Begreifst du denn nicht?«, schrie sie. »Wenn Sascha und ich zusammen verschwinden, weiß Uri, woher der Wind weht. Der Pass, der verschwundene Anton, das verlassene Haus. – Er weiß dann genau, was Sache ist. Umso mehr Grund für ihn, uns zu verfolgen. Du kennst diese Menschen nicht. Sie finden uns. Nichts kann Uri aufhalten.«
Madeleine sprang auf und lief aufgeregt im Zimmer auf und ab. »Du willst also einfach still sitzen bleiben und auf ihn warten. Du musst verrückt sein. Du brauchst dich nicht töten zu lassen, um Sascha zu retten.« Am liebsten hätte sie ihre Tochter geschüttelt, so gefährlich schien ihr deren Plan.
Nun sprang Rachel ebenfalls auf und stellte sich vor ihre Mutter. »Madeleine! Das ist die einzige Möglichkeit.« Sie packte Madeleine am Handgelenk und führte sie wieder zum Sofa. »Nun hör mir mal genau zu und lass mich ausreden. Heute bei Morgengrauen kam mir diese Lösung, und eine andere gibt es nicht. Es besteht kein Zweifel daran, dass Anton sich in irgendwelchen Schwierigkeiten befand, wie du selbst gesagt hast. Er war ein Gangster und jemand war sauer auf ihn. Er war drauf und dran, das Land zu verlassen, und Uri wusste, dass er Sascha mitnehmen wollte. Uri hatte den Pass persönlich besorgt. Ich muss Uri davon überzeugen, dass Anton Sascha mitgenommen und sich abgesetzt hat – wie er es geplant hatte. Er muss sich einbilden, dass Anton so bis über beide Ohren in der Scheiße saß, dass er verschwinden musste, und nun nichts von sich hören lässt, um Uri und seine Machenschaften nicht zu gefährden. Vielleicht kommt Uri sogar von selbst auf die Idee, dass Anton ihn irgendwie verraten haben könnte. Wenn er zu mir kommt – was er mit Sicherheit tun wird – und Sascha ist weg, und ich bin hysterisch und verrückt vor Sorge, Angst und Kummer … Wenn ich das hinkriege, kann es sein, dass er mir glaubt. Wo sonst sollte Sascha sein? Uri weiß, dass ich es nicht ertrage, meinen Sohn nicht bei mir zu haben.«
Madeleine sah sie an. Es klang plausibel. Vielleicht hatte Rachel doch recht. »Tut er dir nicht trotzdem etwas an? Um herauszufinden, ob du die Wahrheit sagst?«
»Das Risiko muss ich eingehen.« Ein schreckliches Szenario nach dem anderen tauchte vor ihrem geistigen Auge auf und spiegelte sich in ihrem Gesicht.
»Und wann kommst du zu uns, Rachel?
»Wenn genug Zeit vergangen ist und ich das Gefühl habe, dass die Luft rein ist. Ich muss das Haus verkaufen und umziehen. Es könnte noch eine Weile dauern. Einige Monate, ein Jahr, vielleicht auch länger.«
»Du vertraust mir deinen Sohn aber lange an.«
»Ich muss doch, oder?« Rachel senkte den Blick. »Ich vertraue dir. Du bist nicht die kaltblütige Hexe, die ich mir in meiner Phantasie ausgemalt habe. Das weiß ich jetzt. Verdammt, ich kann dich nicht verurteilen. Ich wusste, wie sehr du dich danach gesehnt hattest, mich kennenzulernen, und es war gemein, mit dir zu spielen.« Sie suchte Madeleines Blick. »Ich weiß, dass du gut zu Sascha sein wirst. Ich vertraue dir. Bitte, nimm ihn mit.«
Madeleine nickte. »Wenn du es für den einzigen Ausweg hältst, dann ja.«
»Wie bald kannst du abreisen?«
»In einer Woche, es können aber auch zwei werden. Ich überlege, ob es ein Problem geben kann, wenn ich ihn mitnehme.«
»Verflucht!«, rief Rachel. »Wie finden wir das raus?«
Madeleine stand auf und ging auf und ab. »Ich rufe die Auswanderungsbehörde an. Wenn wir eine Bescheinigung oder eine Genehmigung brauchen, kenne ich jemanden, der uns helfen wird.« Sie dachte an Ronald Trapp. Er war seit vielen Jahren Nevilles Anwalt, und sie würde ihn ohne Zweifel um eine
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