Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
sie. »Natürlich hatte ich das.«
»Erzähl mir irgendwann mal davon«, grinste John.
Plötzlich wurde ihr bewusst, wie selten sie Forrest erwähnte. Wenn John gelegentlich vergaß, dass sie verheiratet gewesen war, konnte sie ihm das nicht verübeln.
Mit einer charakteristischen Geste legte John seinen Zeigefinder an den Steg seiner Brille und schob sie hoch. Er hatte zugenommen, seit er sich in Angus Rowlands verliebt hatte, einen älteren Mann mit chronischen Rückenschmerzen, dessen größte Passion in Essen und Kochen zu bestehen schien. Johns Hemd spannte über seinem fülligen Bauch.
»Es klingt, als hätte sie wirklich Angst, dass ihr Sohn entführt wird«, überlegte er, »und als wollte sie aus einer gefährlichen und gestörten Beziehung entkommen. Das scheint mir ein ziemlich vernünftiger Grund zu sein, sich in eine Therapie zu begeben.«
»Meiner Meinung nach gehört die Sache in die Hände der Polizei«, beharrte Madeleine. »Dieser Kerl ist ein Afghanistan-Veteran. Ich habe irgendwo gelesen, dass die Soldaten in Afghanistan total brutalisiert wurden und als perfekte Gangster, blutrünstig und geldgierig, zurückkamen. Sie müsste mit jemandem sprechen …«
»Ja, mit dir.«
»Ich habe die Behörden gemeint. Er lebt illegal im Land. Sie könnte ihn wahrscheinlich ausweisen lassen.«
John schüttete sich sein Bier in die Kehle. »Sie hat Angst.«
»Es ist ein wenig widersprüchlich, dass sie das Bedürfnis verspürt, ihren Sohn zu beschützen, und sich selbst jeden Schutz versagt.«
»Natürlich. Vielleicht hat sie die Sozialarbeiterin deshalb hergeschickt.«
»Ach, es gibt keine Sozialarbeiterin, da bin ich mir sicher. Wenn sie sich wegen der angedrohten Entführung ihres Sohnes ernsthafte Sorgen macht, warum geht sie dann nicht zur Polizei, zumindest, um sich beraten zu lassen? Würde das nicht jede Mutter tun?«
»Angst ist ein starkes Gefühl, und die Leute, mit denen sie es zu tun hat, sind gefährlich.«
»Ja, vermutlich.« Madeleine stützte das Kinn auf die Hände. »Aber – und auf dem Gebiet habe ich auch keine persönliche Erfahrung – ist der Mutterinstinkt, das Bedürfnis, seine Kinder zu beschützen, nicht der mächtigste Trieb praktisch aller Arten?«
Ihr Herz machte plötzlich einen Satz, und ein vertrauter Schmerz tief in ihrem Inneren erinnerte sie daran, dass das, was sie gerade gesagt hatte, nicht stimmte. Sie nahm einen Schluck aus ihrem Glas.
John hatte etwas gesagt.
»Entschuldigung, ich habe dich nicht verstanden.«
»Du bist diejenige, die hier durcheinander ist«, lachte John. »Ich habe eingeschränkt: nach dem Zeugungstrieb. Es ist denkbar, dass sie ihn deshalb unterbewusst noch immer ficken will, den Russen. Der Bruttrieb.«
»Was?«
»Herr im Himmel, nun konzentriere dich. Der Fortpflanzungstrieb ist stärker als der Mutterinstinkt.«
Sie sah in Johns weiches, freundliches Gesicht und fragte sich, warum sie ihm nie die Wahrheit erzählt hatte. Als sie gramgebeugt und verwirrt aus Key West nach England zurückgekommen war und beschlossen hatte, eine psychotherapeutische Ausbildung zu beginnen (die ihr Vater Neville in einem Anfall von Großzügigkeit zu finanzieren bereit war), rettete sie die Bekanntschaft mit John. Sein bester Freund war gerade an Aids gestorben, und sie fühlten sich sofort zueinander hingezogen. Viele Monate lang stützten sie sich gegenseitig und teilten ihr Elend. In den sieben Jahren enger Freundschaft und in Hunderten von Stunden gegenseitiger Beratung, in denen sie einander ihre Frustrationen, ihren Kummer und ihre Angst offenbarten, hatte sie ihm nie das Wichtigste über sich erzählt, das Ereignis, welches ihr Leben als erwachsene Frau geprägt hatte. Vielleicht weil sie sich einzugestehen weigerte, dass sie mit einer Lüge lebte und unter der Oberfläche ihres geordneten Lebens, ihres ausgeprägten Selbstbewusstseins, ihres emotionalen Gleichgewichts von tiefer Scham erfüllt war.
»Du hörst mir nicht zu«, stellte John ein wenig ungehalten fest. »Können wir zu Mrs Nettle übergehen?«
»Macht es dir was aus, wenn wir das lassen?«, bat Madeleine. »Du kennst meine Meinung über sie, oder sollte ich sagen, über dich. Es ist eine ungesunde, von gegenseitiger Abhängigkeit geprägte Patient-Therapeut-Beziehung, und außerdem ist sie verrückt. Du solltest deine Zeit und ihr Geld nicht verschwenden, denn sie braucht einen Gehirnklempner mit Rezeptblock.«
»Mann!«, rief John und runzelte die Stirn. »Du bist wirklich
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