Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
erbarmungswürdig bleich sah. Ihre Beine schienen im Verhältnis zu ihrem Rumpf zu lang zu sein, aber es waren schöne Beine, das hatte man ihr unzählige Male versichert. Anton gefielen lange Beine, aber was ihn eigentlich anmachte, waren sinnliche Brüste und ein ordentliches Hinterteil, und genau genommen hatte sie in dieser Hinsicht nichts zu bieten, jedenfalls war es nicht der Rede wert. Warum nur war er so scharf auf ihren mageren Körper? Sie bürstete sich das Haar und hob es an, um ihre Ohren zu betrachten. Im Moment war er zuckersüß, aber er konnte diese vernarbten und zerfetzten Ohrläppchen und die Prellungen in ihrem Gesicht ansehen, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben. Das musste ihm erst einmal einer nachmachen.
Sie trat dichter an den Spiegel heran und musterte ihr Gesicht. Blass, angespannt, die Augen verquollen – das rechte von einem kranken Gelb umgeben und das linke teilweise blutrot unterlaufen. Ihr Kiefer war noch immer geschwollen, und die Lippen waren aufgeplatzt. Sie nahm einen Lippenstift, den sie seit über einem Jahr mit sich herumtrug, und roch daran. Der wurde mit Sicherheit irgendwann ranzig, aber das war allemal besser als Lippen, die aussahen wie eingerissene Fersen. Dann entnahm sie ihrem Kulturbeutel eine Flasche und legte etwas Grundierung auf ihre verfärbte Haut.
»Lass uns gehen, Mum«, rief Sascha. »Daddy ist hungrig.« Er hämmerte an die Tür.
Bestürzt sah sie, dass die Tür kein Schloss hatte. »Ich komme«, antwortete sie und setzte sich ihre Sonnenbrille auf.
»Einen schönen Abend wünsche ich Ihnen«, sagte die Dame, als sie am Empfang vorbeigingen. Sascha blieb bei dem Labrador stehen, um ihm über den Kopf zu streicheln. Der Hund öffnete langsam ein Auge. Rachel wusste, dass ihr Sohn Napoleon schrecklich vermisste, auch wenn er aufgehört hatte, nach ihm zu fragen, weil man Daddys Entscheidungen nicht in Frage stellte. Vertraute er seinem Vater, oder hatte er Angst, dass er den Hund nie wiedersehen würde? Da sie nicht zu sehr in ihn dringen wollte, konnte sie nur Vermutungen anstellen.
Die Stadt war rundum mit einer dicken, alten Steinmauer befestigt. Sie spazierten die Esplanade entlang und gelangten durch eine Maueröffnung in die Altstadt. Die Straßen mit ihrem bunten Gewühl aus Gruppen einheimischer Jugendlicher und Besuchern verliefen kreuz und quer in alle Richtungen. Es war das reinste Labyrinth; man wusste einfach nicht, wo man sich befand. Häuser mit sonderbaren Formen und in Pastelltönen gestrichen reihten sich am Rande der Klippen, die den langen Sandstrand überragten.
Eine Schar Frauen in einheitlichen Engelskostümen kam ihnen entgegen. Völlig betrunken kreischten sie ein Lied, obwohl es erst acht Uhr war.
»Wer sind die, Mummy?«
»Das sind betrunkene Engel, mein Schatz.«
»Ja, aber wieso machen die das?«
»Eine von ihnen heiratet, und die anderen wollen sie dazu bringen, sich so richtig danebenzubenehmen.«
»Ja«, meinte Sascha, als wäre das vollkommen klar. »Ich habe Hunger.«
»Hier lang.« Anton nahm Rachel beim Arm und führte sie eine schmale Gasse hinunter, an deren Ende ein Hafen mit Booten zu sehen war, die im nassen Sand auf der Seite lagen. Einige Stufen führten zu einem vielversprechenden Restaurant in einem schäbigen Gebäude. Die Gäste, zum Großteil mittleren Alters, waren elegant gekleidet. »Das tut’s für heute«, entschied Anton.
Ein pickeliger Jugendlicher, dessen schwarze Hose unglaublich tief auf den Hüften hing, führte sie zu einem Tisch. Er reichte jedem von ihnen eine Speisekarte von der Größe eines Wandposters, und sie lasen darin, während Sascha zu einem Aquarium mit lebenden Hummern rannte.
»Bist du überzeugt?«, fragte Anton sie.
»Überzeugt von was?«, erwiderte sie scharf, ohne die Augen von der Speisekarte zu heben.
»Dass du und ich es noch einmal versuchen sollten. Eine Familie bilden. Wir vier, das Tier eingeschlossen.«
»Aber ja doch, ich bin völlig überzeugt. Wir haben eine stressige Autofahrt gemacht, ohne dass du um dich geschlagen hast.«
Anton legte seine Speisekarte etwas zu heftig hin. »Verdammt noch mal, hast du nicht zugehört, was ich am Telefon gesagt habe? Ich will mich bessern. Ich will mein Bestes tun, um alles wiedergutzumachen.«
»Du und deine Versprechungen.« Sie funkelte ihn an, schob ihr Haar zurück und flüsterte zornig: »Sieh dir meine Ohren an. Erinnerst du dich daran, wie du das getan hast? Erinnerst du dich, wie du mich geprügelt
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