Erdbeerkönigin
sich kaum noch. Außerdem fühle ich mich nicht allein. Über mir sind manchmal Schritte zu hören, im Treppenhaus erklingen Stimmen, immer wieder ertönt Babygeplärr. Es ist ein lebendiges Haus, und die Vorstellung, dass ich nur ein paar Schritte gehen müsste, um Hilfe zu bekommen, ist beruhigend.
An diesem Morgen finde ich »meine« Straße völlig verändert, als ich auf den vorderen Balkon trete. Trucks und Lieferwagen verstopfen die Fahrbahn, Verkaufswagen werden an markierten Stellen geparkt, Kisten gestapelt, Obstladungen ausgeräumt. Autos hupen, Menschen rufen sich Anweisungen zu. Da unten wird ein Markt aufgebaut!
Damit ist der Plan für die nächsten Stunden fertig: duschen, Kaffee trinken, Marktbesuch.
»Würdest du heute auch noch von einer Party mit mir abhauen?«, frage ich in der Küche den jungen Vater, der auf meinem Lieblingsfoto am Kühlschrank unverändert skeptisch blickt. »Habe ich mich sehr verändert?« Selbstkritisch blicke ich an meinem hellgrünen Schlafanzug hinunter. In dem gefalle ich mir selbst nicht. Soll ich es wagen? Einen Moment lang zögere ich. Aber dann ziehe ich den Schlafanzug aus und stopfe ihn in die Mülltüte. Lieber nackt herumlaufen als mit diesem langweiligen Teil! Ich mochte ihn noch nie, und bezeichnenderweise hat Nick nie etwas dazu gesagt. Er hat ihn mir allerdings auch nicht vom Leib gerissen. Der Schlafanzug war ein Sonderangebot im Discounter, das ich damals gern wahrgenommen habe. Aber heute und hier ist das Leben auf einmal zu kurz für Kompromisse und langweilige Schlafanzüge. Nachdem ich nackt die Kaffeemaschine befüllt und eingeschaltet habe, ist mein rebellisches Freiheitsgefühl allerdings erschöpft, und ich gehe dorthin, wo man üblicherweise unbekleidet ist: unter die Dusche.
Während ich mich später abtrockne, überlege ich, ob Daniel mich überhaupt wiedererkannt hätte, wenn wir einander auf der Straße begegnet wären. Ich denke an die hübsche Blondine auf dem Foto und gebe mir gleich selbst die Antwort: Daniel hätte mich übersehen. Karierte Bluse, praktisches Schuhwerk, Steppweste inklusive.
Frisch geduscht und mit einem Becher Kaffee in der Hand setze ich mich kurze Zeit später an das kleine Tischchen auf dem Küchenbalkon, blicke auf den Kanal hinunter und lasse meine Gedanken wandern. So wie ich aufgehört habe, mich für Mode zu interessieren, habe ich auch aufgehört, mich in meinem Körper heimisch zu fühlen. Als ich Nick kennenlernte, war ich schlanker und mir meiner Ausstrahlung auf ihn deutlich bewusst. Wenn er mich umarmte, reagierte mein Körper unwillkürlich mit Nähe. Ich drückte meine Hüfte an ihn, ich schmiegte meinen Bauch an seinen, ich schlang meine Arme um ihn. Als wir dann abwechselnd Benny auf dem Arm trugen oder sich sein kleiner Kinderkörper zwischen uns drängte, hat sich etwas verändert. Unsere Beziehung wurde weniger sinnlich – das Paar, das im Bett fast zu einem Körper geworden war, zerfiel wieder in zwei Personen. Je seltener Nick mich berührte und küsste, desto fremder und körperloser fühlte ich mich. Heute fühle ich mich oft plump und unschön. Kritisch betaste ich meinen Bauch. Vielleicht hätte ich gestern doch nicht ein zweites Mal von der köstlichen Mousse au Chocolat nehmen sollen, die Theo als Dessert auftischte? Erstaunlicherweise versöhnt mich der Gedanke an den vergangenen Abend jedoch wieder mit mir selbst. Mein Speckrand über der Hose hat schließlich diesen Philippe nicht davon abgehalten, mich als wunderbares Einzelstück zu bezeichnen. Philippe, nein … wie lautet sein Spitzname? Theos ironisches Grinsen steht mir wieder vor Augen. »Unseren Filou hast du also bereits kennengelernt.« – Filou? Dieses Wort schubste mich zurück in die Französischstunden meiner Schulzeit. Ein Filou war ein Gauner, ein Lausejunge, ein charmanter Windhund. Der Ausdruck löste bei mir einen kecken Mutwillen aus. Ich sah den hübschen Franzosen mit herausfordernd hochgezogener Augenbraue an. »Bist du tatsächlich ein Lausejunge?« Sein strahlendes Lächeln steht mir wieder vor Augen, und ich höre seine weiche Stimme. »J’adore les femmes! Isch bete die Frauen an.« Mit ihm war der Abend bei Hubertus und Theo noch schöner geworden. Obwohl sich Theo und Hubertus einen großen Spaß daraus gemacht hatten, mir Filous französischen Akzent als Flirt-Strategie zu erklären. »Filou spricht fließend Deutsch, aber erst mit seinem französischen Akzent reißt er die Frauen um. Deswegen
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