Erdbeermond: Roman (German Edition)
»falschen Abschieds« kommen: wenn man jemanden nicht so gut kennt und man hat sich von ihm warm und herzlich verabschiedet, vielleicht sogar mit einem Kuss, und trifft ihn dann wenige Minuten später wieder, an der Bushaltestation oder in der Subway oder auf der Straße, wo er ein Taxi anzuhalten versucht. Ich weiß nicht, warum, aber es ist immer eine peinliche Situation, und das entspannte Gespräch von wenigen Minuten zuvor ist verschwunden, und die Stimmung ist angespannt, und man guckt auf die Schienen und betet: Nun komm doch, Subway, komm bitte. Und wenn dann die Bahn oder das Taxi oder der Bus kommt, dann sagt man »Also dann, auf Wiedersehen«, und man lacht darüber und sagt fröhlich: »Schon wieder Wiedersehen«, aber es ist nicht so wie davor, und man zögert, ob man sich noch einmal küssen soll, aber wenn man es macht, fühlt es sich falsch an, und wenn nicht, dann ist es, als hätte man sich im Unfrieden getrennt. Wie ein Soufflé kann man auch einen Abschied nur einmal hinkriegen. Er kann nicht aufgewärmt werden. Während ich wartete, bis ich ohne jedes Risiko gehen konnte, beobachtete ich die anderen, normalen Menschen, die in den Zoo strömten, und fragte mich, wie Mitch wohl vorher war. Oder wie er später sein würde. Ich wusste, dass ich nicht sein wahres Selbst sah; im Moment war er nur seine Trauer und sein Verlust. So wie ich. Ich war auch nicht ich selbst.
Dann dachte ich: Vielleicht wäre ich nie wieder ich selbst. Denn das Einzige, was alles wieder so machen würde wie vorher, wäre, dass Aidan nicht gestorben wäre, und das war unmöglich. Würde ich bis in alle Zeiten den Atem anhalten und warten, dass die Welt wieder ins Lot kam?
Ich sah auf meine Uhr. Mitch war vor gut zehn Minuten gegangen. Ich zählte bis sechzig, dann hatte ich das Gefühl, es wagen zu können. Auf der Straße sah ich mich mehrmals verstohlen um, konnte ihn aber nirgendwo entdecken. Ich winkte ein Taxi herbei, und als ich in meiner Wohnung ankam, fühlte ich mich ganz gut. Der Sonntag war zum größten Teil schon vorbei.
SIEBENUNDZWANZIG
Bevor ich mich an meinen Schreibtisch setzte, ging ich auf die Damentoilette, wo jemand über eins der Waschbecken gebeugt stand und sich die Augen aus dem Kopf weinte. Weil es Montagmorgen war, wunderte es mich nicht, dass jemand weinte, wahrscheinlich waren alle Kabinen besetzt mit Mädchen, die sich übergeben mussten, weil sie nicht genügend Presse vorweisen konnten, aber ich war überrascht zu sehen, dass die, die weinte, Brooke Edison war. (In einem eleganten hellgrauen Leinenkostüm, während ich ein kirschrotes Kostüm im Fünfziger-Jahre-Stil anhatte, die Jacke mit einem U-Boot-Kragen, und dazu einen Bleistift-Rock, außerdem Söckchen mit Rosenmuster, Riemchensandalen aus rosa Lackleder und eine Handtasche in der Form eines zweistöckigen Hauses.)
»Brooke! Was ist passiert?«
Ich konnte nicht glauben, dass sie weinte. Ich hatte gedacht, dass es praktisch illegal war für weiße, angelsächsische Protestanten, Gefühle zu zeigen.
»Oh Anna …«, schluchzte sie. »Ich bin mit meinem Dad aneinander geraten.«
Ach du liebe Güte! Brooke Edison geriet mit ihrem Dad aneinander? Ich gestehe, ich fand das ziemlich aufregend. Es war tröstlich, zu hören, dass auch andere Menschen Probleme hatten. Und vielleicht war Brooke normaler, als ich gedacht hatte.
»Es ging um ein Kleid von Givenchy«, sagte sie.
»Maßgeschneidert oder von der Stange?«
»Ohhh.« Es klang, als hätte sie die Frage nicht verstanden. »Also, maßgeschneidert. Und … und …«
»Und er will es dir nicht kaufen«, half ich ihr weiter und fischte eine Packung Papiertücher aus meiner Handtasche in Hausform. Sie hatten ein Schuhmuster, was mich irgendwie schockierte. Wo ich auch ging und stand, alles war ausgeflippt.
»Nein«, sagte sie und machte die Augen weit auf. »Oh nein. Mein Dad wollte es mir schenken, aber ich habe gesagt, ich hätte schon so viele fabelhafte Kleider in meinem Schrank.«
Ich sah sie an und spürte, wie ein sinkendes Gefühl über mich kam.
»Ich habe gesagt, es gebe so viel Armut in der Welt und ich brauchte kein neues Kleid. Und er hat gesagt, es sei doch nichts daran auszusetzen, wenn er wolle, dass sein Mädel hübsch angezogen sei.« Sie brach wieder in Tränen aus.
»Mein Dad ist mein bester Freund, weißt du?«
Ich wusste es nicht, ich nickte dennoch.
»Deshalb ist es so schrecklich, wenn wir uneins sind.«
»Ich glaube, ich muss los«, sagte ich. »Du
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