Erdenrund: Hartmut und ich auf Weltreise (German Edition)
uns neue Hobbys einfallen. Wir wären zusammen. Womöglich würden wir unsere Familie vergrößern. Nach und nach. Ich sehe meinen Liebsten und Hartmut, wie sie versuchen, fachgerecht das Dach einer Gartenhütte zu decken. Sie fluchen und lachen gleichzeitig. Schweiß glänzt auf ihren Stirnen. Hartmut zitiert einen Philosophen, der über die Bedeutung der Mühe geschrieben hat. Meine bessere Hälfte vergleicht die anstrengende Arbeit mit dem schwersten Videospiel, das ihm einfällt. Susanne gräbt um und zeigt einem kleinen Mädchen einen Regenwurm. Ihrer Tochter. Oder meiner. Irmtraut schwimmt durch einen neuen Teich. Yannick jagt einen Vogel vom Ast.
Traumgespinste.
Susanne schrieb, dass sie nicht weiß, wie es Yannick geht. Also hat sie weder mit meinem noch mit ihrem Liebsten Kontakt. Wir sind einsame Sterne in unterschiedlichen Galaxien. Und ich denke an Nachwuchs in einem Landidyll. Wie lächerlich.
Doch der Ärger, der sich nach der schönen Träumerei in mir aufgebaut hat, verfliegt mit dem nächsten Windhauch. Dieser Ort lässt ihn nicht zu. Ich werde wieder ruhiger, ganz locker, die Gedanken fließen. Kleine Zornblitzer kicke ich weg. Ruhe. Atmen. Langsam passe ich mein Innenleben wieder der Umgebung an. Werde gelassen und still.
Mein Blick wandert abwechselnd über die Landschaft und mein Skizzenbuch. Ich habe mich auf den dichten Rasen am Hang gesetzt und zeichne mit meinen Polychromos. Keine Kopf-Mutter weit und breit. Ich bin ganz froh, dass ich zu diesem Ausflug nur trockenes Malzeug mitgenommen habe. Mein Aquarellkasten war eingeschnappt, als ich ihm erklärte, dass ich heute bei meiner begrenzten Zeit nicht darauf warten kann, dass die Farben trocknen, die ich nebeneinandersetzen möchte. Ich habe ihm versprochen, ihn auf meiner Reise noch ganz oft einzusetzen. Bis heute Abend wird er sich beruhigt haben.
Es meckert. Sehr laut und durchdringend. Auf einmal ist die Stille nicht mehr harmonisch. Ein tierischer Schmerzschrei durchbricht die klare Bergluft mit dem Geräusch eines eitergelben Kreidestrichs auf einer Schultafel. Es durchzieht meinen ganzen Körper, als wäre es mein eigener Schmerz.
Ich kann die Richtung ausmachen, aus der das Geräusch kommt, packe meine Sachen zusammen und laufe hin. Eigentlich idiotisch, denke ich mir, obwohl ich selbstverständlich helfen will. Dennoch: Schreien zeigt häufig Gefahr an. Warum rennen Menschen in solchen Situationen nicht davon? Aber ich sehe nichts, was mich selbst in Gefahr bringen könnte. Direkt an einer großen Holzscheune ist ein kleines Gatter montiert. Darin steht eine Ziege. Sie meckert in allen Tonlagen. Ich glaube, ich habe es richtig eingeschätzt: Das ist kein einfaches Meckern. Das arme Tier leidet.
Um das Gatter herum stehen fünf Leute. Vier Erwachsene und ein kleines Mädchen.
Eine Frau sagt: »Meine Güte, die ist doch schon so fett. Und dann bettelt sie derartig.«
»So ist das mit Ziegen«, sagt ein Mann.
»Meinst du damit etwa mich?«, fragt die Frau spitz zurück.
»Boah, das ist ja nicht zum Aushalten«, beschwert sich die zweite. »Lasst uns doch einfach weitergehen.«
Das kleine Mädchen hört, was ihre Familie redet, verharrt aber nachdenklich am Zaun, den Blick auf der Ziege: »Vielleicht hat sie Bauchweh.«
»Nee, die ist einfach nur echt dick. Ich will jetzt weitergehen. Mich nervt das Rumgezicke hier. Komm, auf!«
Ich stehe daneben und sehe mir die Ziege sehr genau an. Die vier Erwachsenen gehen fort. Das Mädchen bleibt stehen und guckt zwischen der Ziege und mir hin und her. »Ihr geht es nicht gut, stimmt’s?«
»Ich glaube, da hast du völlig recht«, antworte ich der Kleinen. Ich zeige ins Gatter. »Guck mal, der Futternapf ist ganz voll, und sie hat noch frisches Heu in der Ecke liegen. Hätte sie Hunger, würde sie fressen.«
»Ja, das finde ich auch.«
»Annika, komm jetzt!«, tönt es.
Ich gehe in die Knie und schaue mir die Ziege genauer an. »Hey, Süße, was hast du denn?«, flüstere ich ihr zu. »Du Arme, niemand nimmt dich ernst.« Ich kraule die Ziege und gebe beruhigende brummende Geräusche von mir.
»Annika!!! Wenn du nicht kommst, musst du hierbleiben!«
»Ja, darf ich?«
»Nein! Komm! Jetzt!«
Ich schaue das Mädchen an. »Sieh mal«, sage ich, »ihre Hinterbeine stehen ganz breit. Der Bauch tut ihr wirklich weh. Aber schau hier mal ganz genau hin.« Ich zeige auf eine ausgebeulte Stelle. Unsere Blicke bleiben darauf kleben.
»ANNIKA!!!«
Das Mädchen lässt sich nicht beirren.
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