Erebos
ja? Halb sechs wäre gut.«
Nick war überpünktlich. Zehn Minuten vor dem vereinbarten Zeitpunkt stand er vor Emilys Haus in Heathfield Gardens und fragte sich, welches Fenster wohl ihres war.
Er war vorsichtig gewesen. Nach dem Vorfall mit Colin gestern hatte er damit gerechnet, dass ihm jemand folgen würde, doch das war nicht passiert. Nick sah sich um – die Straße war beinah menschenleer. Niemand wusste, wo er war.
Er wollte noch nicht läuten, das hätte zu sehr nach Übereifer ausgesehen. Also drehte er eine Runde durch die umliegenden Gassen, die hübsch und gepflegt waren.
Ihm fiel ein, dass er nichts mitgebracht hatte, dabei wäre ein witziges Geschenk eine gute Gelegenheit gewesen zu zeigen, dass er ein origineller Typ mit Tiefgang war. Dafür war es jetzt leider zu spät. Aber wenn er sich nicht zu dämlich anstellte, konnte es ja ein nächstes Mal geben.
Um Punkt halb sechs drückte er den Klingelknopf und Emily öffnete. Wie sich herausstellte, war ihr Zimmer das unter der Dachschräge. Es war keines dieser rosa-plüschigen Puppenzimmer mit Kuscheltieren am Bett und Filmstar-Postern an der Wand, sondern ein sehr erwachsener Raum, fand Nick. Zwei Bücherregale, ein Futonbett und eine Sitzecke mit einem Couchtisch, auf dem sich ebenfalls Bücher stapelten. Unter der Schräge stand ein höchst ordentlicher Schreibtisch, auf dem ein aufgeklapptes Notebook wartete. Sollte Emily ihm jemals einen Gegenbesuch abstatten wollen, würde Nick davor eine größere Räum- und Putzaktion starten müssen.
»Wir sollten leise sein, meine Mutter hat sich vor einer halben Stunde hingelegt. Kann sein, dass sie heute gar nicht mehr aus ihrem Zimmer kommt.«
Nick fragte nicht nach, obwohl es ihm eigenartig vorkam, dass sich eine erwachsene Frau bereits am Nachmittag schlafen legte. Für ihr gemeinsames Vorhaben war es jedenfalls ideal.
»Wir werden keinen Krach machen. Zu Beginn ist das Spiel leise. Später solltest du Kopfhörer verwenden. Aus verschiedenen Gründen. Ich habe jemanden sterben sehen, weil er zu wenig gehört hat.«
»Kopfhörer.« Emily nickte. »Okay. Können wir anfangen?«
Sie holte die DVD aus ihrer Tasche und schob sie ins Laufwerk. »Ich installiere das Spiel ganz normal in meinen Programmordner, oder? Irgendetwas, das ich beachten sollte?«
»Nein. Jetzt noch nicht.«
Das Installationsfenster öffnete sich. Da war wieder alles. Der verfallene Turm, das verbrannte Land. In der trockenen Erde steckte das Schwert mit dem roten Tuch am Griff. ›Erebos‹, stand in roter Schrift am Himmel.
Nick fühlte die Nervosität in seinem Magen pulsieren. Er wischte seine feuchten Hände an den Hosenbeinen ab.
»Soll ich?«, fragte Emily.
»Sicher.«
Sie klickte auf ›Install‹. Der blaue Balken begann vorwärtszurucken, träge wie immer.
»Das dauert jetzt«, sagte Nick, ohne die Fortschrittsanzeige aus den Augen zu lassen. Wie ging es noch mal los? Im Wald. Ja genau, und gleich würde er es sehen. Jeder Ruck des Balkens brachte ihn Erebos näher. Als säße er in einem Zug nach Hause.
Emily sah ihn von der Seite an. »Beunruhigt dich etwas?«
»Wie? Nein! Ich bin nur … ich bin gespannt, wie du es finden wirst.«
»Bis jetzt vor allem langsam«, sagte Emily und stützte ihr Kinn in die Hände.
Eine Zeit lang warteten sie, ohne etwas zu sagen. Nick betrachtete abwechselnd den Stiftebecher auf dem Schreibtisch, den Bildschirm des Notebooks und Emilys Profil. Nirgendwo im ganzen Zimmer sah er eine ihrer Zeichnungen. Zu dumm, dann hätten sie darüber sprechen können.
»Geht deine Mutter immer so früh schlafen?«, fragte er, nachdem ihm das Schweigen zu lange dauerte. Gleich darauf fand er sich unhöflich und wünschte sich, seine Frage zurücknehmen zu können.
»Sie hat im Moment eine schlechte Phase. Da schläft sie viel, isst wenig und spricht noch weniger.« Emily fixierte die Fortschrittsanzeige noch angestrengter als vorher. »Das ist so, seit Jack tot ist. Es geht auf und ab, ich habe mich schon so daran gewöhnt wie an die Jahreszeiten.«
»Und dein Vater?«
»Wieder verheiratet, zwei Kinder, Derek und Rosie. Neues Spiel, neues Glück.« Sie bewegte die Maus, als hoffte sie, dass die Installation dann schneller gehen würde. »Versteh mich nicht falsch, ich bin ihm nicht böse. Es war nicht mehr auszuhalten und er hat es eben nicht ausgehalten. Ich bin wahnsinnig froh, dass es die beiden Kleinen gibt. Ich wünschte nur, ich hätte genauso abhauen können wie er.«
Nick
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