Erebos
Radioweckers. Vor zehn Minuten hatte Nick beschlossen, heute früh schlafen zu gehen. Er wollte auf Vorrat Schlaf tanken, denn wenn er sich morgen geschickter anstellte, konnte er die ganze Nacht durchspielen und alles wieder aufholen, was er jetzt verpasste.
Zweite Möglichkeit: zum Schein erkranken und die Schule Schule sein lassen. Das hatte Colin auch getan, jede Wette. Ebenso wie Helen, Jerome, Alex und – ach, wahrscheinlich alle anderen.
Doch Nick wusste, dass er nicht schwänzen würde, auf jeden Fall nicht morgen. Es würde sein erster Schultag nach dem Freitag sein, an dem Brynne ihm die DVD gegeben hatte. Morgen würde er alle Leute in der Schule mit anderen Augen sehen. Seine Gegner aus Fleisch und Blut. Er wollte mit Colin sprechen und gemeinsam mit ihm überlegen, wer sich hinter welcher Gestalt verbarg. Er wollte herausfinden, wer LordNick war.
Wer weiß, was sie jetzt gerade tun. Vielleicht läuft die beste Quest von allen. Ohne mich. So ein Dreck.
Nick drehte sich erst auf die rechte, dann auf die linke Seite, doch der Schlaf kam nicht. Kaum schloss er die Augen, sah er alle Kämpfe des vergangenen Tages noch einmal vor sich: Das große Glotzauge schwang seinen Stab und kam drohend auf ihn zu, Xohoo wurde an den Beinen aus der Arena geschleift, über blutigen Sand …
Mit einem schweren Seufzer verschränkte Nick die Arme hinter dem Kopf. 22:13 sagte die Uhr. Das war schon nah dran an seiner üblichen Schlafenszeit, doch er war wach wie selten. Wie Xohoo wohl sein Ausscheiden verkraftete? Ob er ihn morgen erkennen würde? Vorausgesetzt natürlich, er ging auf die gleiche Schule wie Nick. Das taten sicherlich nicht alle Erebos-Kämpfer. Natürlich nicht, was für ein alberner Gedanke. Er schloss wieder die Augen.
Wie viele waren es heute in der Arena gewesen? Ungefähr vierzig oder fünfzig Dunkelelfen, dreißig Vampire, zwanzig Zwerge. Barbaren? Auch zwanzig, grob geschätzt. Werwölfe ein bisschen weniger – fünfzehn? Das konnte hinkommen. Die Anzahl der Katzen- und Echsenwesen hatte sich etwa in der gleichen Größenordnung bewegt. Und dann waren da noch die drei Menschen gewesen. Okay, das machte alles in allem … 160 oder 170 Kämpfer. Eine ganz schöne Menge, aber natürlich ein Klacks, wenn man es mit der Spielerzahl anderer Online-Rollenspiele verglich. Obwohl natürlich nicht alle Erebos-Spieler in der Arena versammelt gewesen waren, aber sicher ein großer Teil. Und dieser ominöse Innere Kreis. Die Champions. Ob Drizzel es geschafft hatte, einen von ihnen von ihrem goldenen Podest zu zerren? Nick musste grinsen. Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich hatte Drizzel nur kräftig eins auf die Rübe gekriegt. Geschah ihm recht.
22:21. Und wenn er es noch einmal probierte? Konnte ja sein, dass der Bann wieder aufgehoben war. Er würde ohnehin nicht einschlafen können, wenn er es nicht wenigstens noch einmal versucht hatte.
Er knipste die Nachttischlampe an, ging zum Computer und schaltete ihn ein, mit einem Gefühl der Enge in der Brust. Sei nicht nervös, du Idiot.
Doppelklick auf das rote E. Nichts. Noch einmal. Wieder nichts. Ohne lange nachzudenken, ging Nick auf die Seite von Google. Wenn er mehr über das Spiel erfuhr, würde er sicher einen Weg finden, die Software wieder zum Laufen zu bringen. Nur dass der Bote Nicks ersten Versuch mitbekommen hatte, wie auch immer das möglich war. Ein zweiter Versuch würde ihn möglicherweise verstimmen.
Aus einer plötzlichen Idee heraus rief Nick Amazon auf. Sein Spiel war eine Raubkopie, aber es musste ein Original geben. Er gab ›Erebos‹ in die Suchleiste ein und drückte enter, halb in Erwartung einer weiteren Ermahnung, die rot durch sein nächtliches Zimmer glühen würde:
Keine gute Idee, Sarius. Eine dumme Idee, um genau zu sein. Eine tödliche Idee.
Doch Amazon listete eine Reihe von Opern-CDs auf, Orpheus und Eurydike in verschiedenen Aufnahmen. Warum? Aha, es lag an einer Arie mit dem Titel Chi mai dell’Erebo, was immer das heißen mochte. Leider brachte ihn diese Erkenntnis keinen Schritt weiter. Ein Spiel mit dem Titel Erebos gab es nicht. Nicht einmal eine Vorankündigung. Wie konnte es dann eine Kopie davon geben? Und wer in aller Welt hatte das Original?
Nick betrachtete die verschiedenen Gemälde auf den Covern der Opern-CDs. Meist waren es Ausschnitte von Gemälden und sie erinnerten Nick an etwas. Er brauchte ein paar Minuten, bis er dahinterkam. Sie erinnerten ihn an das große Glotzauge.
22:57. Wieder
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