Erfrorene Rosen
zögernder Schritt, er taumelt und fällt hin, ein kleiner, flacher Baumstumpf schlägt ihm ins Zwerchfell. Olli schnappt mühsam nach Luft, wirft den Helm weg und sieht Beine, die vom Hof kommen und direkt auf Tossavainen zulaufen.
Der Läufer bleibt plötzlich stehen. Olli schleppt sich ein paar Schritte vorwärts und sieht, dass Tossavainen seine Waffe auf den Schützen richtet. Der Mann ist offensichtlich überrascht worden. Ist Tossavainen direkt in die Arme gelaufen, ohne Zeit zur Gegenwehr. Olli ist erleichtert, gleich darauf aber wieder besorgt. Tossavainen sagt etwas, doch der Mann reagiert nicht, er steht nur da. Erneut bewegen sich Tossavainens Lippen, sicher fordert er den Mann auf, seine Waffe wegzuwerfen. Doch der scheint gar keine zu haben. Die eine Hand ist jedenfalls leer, die andere sieht Olli nicht genau.
Der Mann tut immer noch nichts, die Situation wirkt bedrohlich. Was hat der Kerl vor? Olli hebt seine Waffe und versucht den Mann ins Visier zu bekommen, doch Tossavainen steht genau in der Schusslinie.
Plötzlich sprintet der Mann los, rennt auf das Gebüsch zu. Tossavainen brüllt, aber der Mann setzt seine Flucht fort. Das Gebüsch knackt, Zweige brechen, als Tossavainen, gefolgt von Olli, dem Flüchtigen nachsetzt.
Sie haben das Gebüsch hinter sich gelassen. Es ist klar, dass der Mann schneller rennen kann als Tossavainen. Tossavainen bleibt stehen, ruft aus vollem Hals, hebt die Waffe und zielt auf den fliehenden Mann, auf seinen Rücken, langsam und sorgfältig. Der Mann läuft einen sanft ansteigenden Hügel hinauf, zum Wald, der sich dahinter abzeichnet. Tossavainen hat eine gerade Schusslinie. Jetzt oder nie. Gleich hat der Mann den Hügelkamm erreicht, danach wird er im Wald verschwinden.
Olli bleibt wartend stehen. Nun schieß doch, schieß endlich, verdammt! Aber Tossavainen lässt die Waffe sinken und läuft weiter. Nun macht Olli sich ernsthaft Sorgen. Tossavainen läuft ganz offensichtlich in eine Falle. Der Mann ist inzwischen hinter dem Hügel verschwunden. Es ist gut möglich, dass er seine Waffe noch bei sich hat, und nichts kann ihn hindern, in aller Ruhe auf Tossavainen zu zielen, der bald über die Kuppe laufen wird. Und abzudrücken.
»Halt! Warte!«, ruft Olli, doch Tossavainen läuft weiter.
Olli rennt los, aber der Abstand ist zu groß, er muss hilflos zusehen, wie Tossavainen hinter der Hügelkuppe verschwindet.
Ein Schuss. Ein entleerender, auslöschender Schuss. Genau das, was Olli befürchtet hat. Es kommt ihm vor, als wäre die Welt geräuschlos geworden. Er hört nur noch das Pochen seines Herzens und schnaufende, immer wieder stockende, röchelnde Atemzüge. Olli macht einige Laufschritte, bleibt ratlos stehen und läuft dann doch weiter. Er kommt auf die Idee, die Kuppe seitlich zu umgehen, um nicht in dieselbe Falle zu rennen wie Tossavainen, weiß aber genau, dass der Schütze ihn womöglich trotzdem mühelos abknallen kann.
Tossavainen taucht in seinem Blickfeld auf, mitten in einem jungen Birkenwald, mit gesenktem Kopf. Olli stürzt zu ihm, ohne länger an den Schützen zu denken. Auf den letzten Metern bleibt er stehen und betrachtet Tossavainen, der reglos auf den Knien hockt. Olli schleicht sich leise näher und beugt sich zu ihm hinunter. Kein Blut zu sehen. Tossavainen sieht mit versteinertem Blick auf eine Stelle im Wald, schräg vor ihm.
Olli hockt sich neben ihn. Tossavainen reagiert nicht. Seine Lippen bewegen sich, als versuche er, etwas zu sagen. Vergeblich versucht Olli, die Worte aufzufangen. Plötzlich kommt alles zum Stillstand.
Ein kleiner Junge liegt in einer Senke zwischen den Birken wie in einem eigens für ihn gerichteten Bett. Genau wie der Spatz. Reglos, ohne zu atmen. Etwas Weißes guckt unter ihm hervor. Wie ein Flügel oder eine Flügelspitze. Der Flügel eines Gleitflugzeugs. Kleine Blutstropfen färben das gestreifte Hemd des Jungen an der Schulter, sein Kopf hängt schlaff nach hinten. Er scheint zu schlafen, aber ein Bein ist unnatürlich abgewinkelt und verrät die Wahrheit. Der kleine Kerl hat versucht wegzulaufen, hat sich umgedreht und einen Treffer abbekommen. Ist auf sein Standbein gefallen.
Irgendwo ertönt der klagende Ruf einer Frau. Die Mutter des Jungen. Sie läuft auf den größten Schock ihres Lebens zu. Nähert sich Schritt für Schritt einer Wahrheit, die sie nie akzeptieren wird, die sie niemals wird glauben wollen.
Es ist zwingend notwendig, etwas zu tun, aber Olli ist zu keiner Handlung fähig. Alles
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