Erfrorene Rosen
Schnaps nicht mehr. Er hat das Gefühl, genau in dieser Situation zu stecken.
Nun steht er auf dem taschentuchgroßen Rasen vor seinem kleinen Reihenhaus und schaut zum Fenster hinein. Endlich zu Hause, endlich in Sicherheit!
Im Fenster ist eine Gestalt zu sehen. Das ist Anna, sie kocht Brei für Eetu, der in seinem Hochstühlchen sitzt und mit den Händen auf den Tisch patscht. Allmählich wächst er schon aus dem Stühlchen heraus. Ein großer Mann. Eetu ist für Olli zum Nabel der Welt geworden, durch eine geistige Nabelschnur unauflöslich mit ihm verbunden. Aus ihm schöpft er Kraft. Die Ereignisse während der letzten Schicht haben dieses Gefühl nur noch verstärkt. Kraft braucht Olli jetzt, und zwar rasch.
Wie schnell sich alles ändern kann. Man dreht sich einen Moment um und danach wird das Leben nie mehr dasselbe sein. Ein halber Augenblick genügt.
Der kleine Junge hatte nicht gewusst, was hinter dem Hügel passierte. Seine Mutter auch nicht. Der Junge hatte seinen Gleitflieger vom Balkon geworfen und gebannt seinen stolzen Flug beobachtet. Erschrocken hatte er dann gemerkt, dass das Flugzeug auf den Wald zuflog. Er wusste, dass er es dort nicht so leicht wiederfinden würde. Es ist schwer zu erklären, warum der Wind den Gleitflieger ausgerechnet in den Birkenwald trug, warum Tossavainen den Killer entkommen ließ und warum der gerade in Richtung Birkenwald floh. Er sah eine Bewegung zwischen den Birken und schoss sofort, ohne sein Ziel genauer anzusehen. Volltreffer. Der Junge ist reglos ins Moos gesunken, in seinen Opferhain, wie der Spatz.
Olli hat versucht, sich an sein Dasein vor Eetus Geburt zu erinnern und sich ein Leben ohne das Kind vorzustellen. Beides hat sich als unmöglich erwiesen. Vielleicht liegt es daran, dass es vor Eetus Geburt gar kein richtiges Leben gab. Eine Welle von Mitleid erfasst Olli, vermischt mit Erleichterung und Glück. Mitleid mit den Eltern des toten Jungen. Mitleid mit Tossavainen. Und Erleichterung und Glück, weil er selbst auf seinem kleinen Rasen stehen und seinen kleinen Sohn betrachten kann.
Dieser kleine Milchschnabel ist ein Fall für sich. Er verkörpert vollkommene Unschuld und Reinheit. Sein kleines Gemüt ist noch von nichts befleckt, und auch sein eigenes Bewusstsein ist noch nicht so weit entwickelt, dass es etwas Böses hervorbringen könnte. Sooft Olli Gelegenheit dazu hat, setzt er sich zu dem schlafenden Eetu, nur um seinen Atem zu riechen. Dieser Atem riecht besser und frischer als jede Blume und jedes Parfüm, besser als alles auf der Welt. Es ist der Geruch der Unschuld. Ein unwiderlegbarer Beweis für die Existenz des Paradieses.
Olli geht hinein. Anna begrüßt ihn so erfreut wie immer, doch er antwortet farblos, distanziert. Er hat den Blick auf Eetu geheftet, der versucht, seinen Brei selbst zu essen, mit seinem eigenen kleinen Löffel. Die Motorik ist noch nicht ganz ausgereift, aber Eetu übt mit Feuereifer. Und es ist besser, ihn nicht zu füttern, denn der Kleine ist schon ziemlich eigensinnig.
»Wie waren die Schichten?«, fragt Anna munter.
Olli gibt ihr keine Antwort, starrt immer noch den Jungen an. Offenbar ist die Nachricht noch nicht bis hierher vorgedrungen. Vielleicht ist das nur gut. Gut, dass es einen Ort gibt, an den die Welt nicht mit all ihren Fasern heranreicht.
Anna merkt auf. Sie ist fähig, Ollis Stimmung an der kleinsten Geste zu erkennen und sich entsprechend zu verhalten. Sie haben viel zu wenig gemeinsame Zeit, um sie mit Zwist und Böswilligkeit zu verschwenden.
Olli öffnet den Kühlschrank und stiert auf seine Füße, weil er vergessen hat, was er herausnehmen wollte. Schnappt sich dann eine Flasche Bier, hält sie ungeöffnet in der herabhängenden Hand.
»Was hast du?«, fragt Anna vorsichtig.
Wieder keine Antwort. Nur dieser starre Blick. Anna macht sich allmählich Sorgen.
»Was?!«, schrickt Olli auf. »Hast du etwas gesagt?«
»Nichts weiter«, entgegnet Anna.
Da schafft Eetu es, seinen Breiteller umzukippen. Das Chaos, das dabei entsteht, stört ihn nicht. Der Kleine lächelt seinen Vater an und trommelt mit dem Löffel auf den Tellerboden. Anna bückt sich, um die Breipfütze aufzuwischen. Fängt es jetzt an? Dass sie sich auseinanderleben? Langfristig können die häufigen Trennungen zumindest keine positive Wirkung haben. Allmählich entfernt man sich voneinander, selbst wenn die Beziehung anfangs noch so rosig und eng gewesen ist. So funktioniert die menschliche Psyche nun mal, sie
Weitere Kostenlose Bücher