Erfrorene Rosen
kommt ihm unwirklich vor, wie eine Filmszene. Vor allem der auf der Erde liegende Junge.
Obwohl Tossavainen schon vor langer Zeit mit dem Tod Bekanntschaft geschlossen, ihn als eine Art Kooperationspartner betrachtet hat, dessen Streiche er kennt, ist die Begegnung mit ihm diesmal ganz anders. Es ist, als hätte der Tod ein neues Gesicht enthüllt – gnadenlos, mitleidslos, monströs. Diese Begegnung hat Tossavainen gelähmt, ihn völlig handlungsunfähig gemacht, als wäre auch er für eine Weile gestorben.
Die Frau stürzt zu ihrem Sohn. Nimmt ihn in die Arme und klagt herzzerreißend. Olli will es nicht hören, seine Ohren schmerzen. Tossavainen reagiert immer noch nicht. Die Frau versucht, ihren Sohn aufzuwecken, doch sein Schlaf ist zu tief. Ihre Klagerufe tragen weit, sie werden schon bald Neugierige anlocken.
Sosehr er sich auch bemüht, Olli wird die Vorstellung nicht los, der Junge wäre sein Sohn. Bei dem Gedanken wird er beinahe hysterisch. Er erinnert sich, wie Eetu das Bügelbrett umkippte. Es war das erste Mal, dass der Junge, der gerade erst krabbeln gelernt hatte, sich wehtat. Für den Bruchteil einer Sekunde sah es so aus, als würde die Sache schlimm ausgehen. Der Rand des schweren Bügelbretts schien wie die Klinge einer Guillotine auf den zerbrechlichen Rücken des Kleinen zu sausen, dessen eigentlicher Kern nicht dicker war als ein Bleistift. Sie kamen mit dem Schrecken davon, aber das Bügelbrett existiert nicht mehr. Olli war maßlos in Wut geraten und hatte das solide konstruierte Ding buchstäblich in seine Einzelteile zerlegt. Als wäre das Brett daran schuld, dass Eetu es umgestoßen hatte.
Nachträglich hatte Olli sich geschämt, weil er seine Gefühle nicht besser im Griff gehabt hatte, weil er minutenlang fast völlig ausgerastet war. Es war peinlich und zugleich erschreckend gewesen, etwas, was er nie zuvor erlebt hatte. Aber manche Dinge sind unermesslich wichtig und unantastbar. Solche Dinge sind dazu angetan, unberechenbare Taten zu provozieren. Deshalb wagt Olli sich nicht einmal vorzustellen, was passieren könnte, wenn der Junge, der da in den Armen seiner Mutter liegt, tatsächlich sein Eetu wäre.
Olli bringt es nicht länger über sich, hinzuschauen, er dreht sich zu Tossavainen um. Der starrt nur auf die kleinen Beine im Schoß der Frau. Der eine Schuh fällt von dem schlaffen Fuß. Es kann nicht Tossavainen gewesen sein, der den Jungen getroffen hat.
Zwischen den Bäumen nähern sich Menschen. Olli sieht eine dunkle Gestalt, die ziellos, ohne Sinn und Verstand, zwischen den Birken hin und her läuft. Die Frau schreit vom Grund ihres Herzens hinter dem Killer her, sodass keinem verborgen bleibt, was passiert ist. Alle verstehen den Schmerz einer Mutter, begreifen ihren Verlust, als sie den Schrei hören.
Der gellende Schrei veranlasst auch den Täter, sich in Bewegung zu setzen. Doch zu seinem Unglück ist es zu spät, der Kreis der näherkommenden Menschen zieht sich immer enger um ihn zusammen. Eine Treibjagd beginnt, an der sich kein einziger Polizist beteiligt. Die Beamten sind noch weit weg.
Bald ist der Mann in die Enge getrieben, er umkreist nur noch zwei Birken und richtet seine Waffe blindlings auf die Näherkommenden. Aber die Leute fürchten sich nicht. Sie fürchten sich nicht, denn das Recht ist auf ihrer Seite. Und der Mörder könnte kein größeres Unrecht verkörpern. Die Ungeheuerlichkeit seiner Tat rechtfertigt jedes Mittel, ihn unschädlich zu machen. Der erste, betäubende Schlag. Der Mann fällt hin und bleibt liegen. Die Leute drängen sich um ihn, sodass er bald nicht mehr zu sehen ist.
Olli fühlt sich vollkommen ausgelaugt. Die Wirklichkeit scheint immer weiter von ihm abzurücken. Er fühlt sich klein, auslöschbar, fast nicht existent. Als säße er in einem Zuber, in dem er nicht einmal die Wand erkennen kann, der zugleich aber so klein ist, dass er nicht hineinpasst. In seinem Kopf kreist nur noch eins. Sein Zuhause.
Ollis Auto steht auf dem Hof. Der Motor kühlt knisternd ab und berichtet damit von der Eile, die der Fahrer hatte. Er ist ohne jeden Halt nach Hause gefahren, denn er ahnte, dass ihn das, wovor er im Birkenwald geflohen war, sonst eingeholt hätte. Die Mietwohnung, diese triste Bude, hätte ihm den Rest gegeben, dorthin konnte er auf keinen Fall.
In der Polizeischule hat Olli gehört, dass man über dienstliche Vorfälle nicht allein nachbrüten darf. Sonst bekommt das Monster die Oberhand und am Ende hilft selbst
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