Erfrorene Rosen
Bild hängt mit einem anderen auf gleicher Höhe – und Bilder gibt es mehr als genug. An manchen Wänden reichen sie vom Fußboden bis unter die Decke. Ausnahmslos alle Bilder stammen von Olli oder von Anna, man könnte meinen, die beiden versuchen, sich gegenseitig künstlerisch zu übertreffen. Da hängen Fotos, Ölbilder, Aquarelle und Werke, bei denen man einfach nicht weiß, wie man sie nennen soll. Verrücktheiten.
Überall hängen Pflanzen. Lauter verschiedene, üppig wuchernde, mit viel Fantasie platziert. Souvenirs, die man nicht gleich als solche erkennt. Ein mehr als faustgroßer Brocken Rohglas aus Italien, aus einer Glasbläserei in Florenz. Ein verbeulter Kaffeekessel aus dem uralten Dorf Louha auf der Insel Zakynthos. Dass er ein Souvenir ist, verrät erst ein Blick ins Innere, wo sich glatt und rund geschliffene weiße Kalksteine finden, die aus diesem von den Venezianern als Blume des Ostens bezeichneten Dorf stammen. In der Wohnung finden sich noch viel mehr Steine. Bröckchen vom Erdball, aus aller Welt.
Als er zu Hause über die Ereignisse des Vortags nachdenkt, stellt Olli verwundert fest, dass er keinen großen Schmerz mehr empfindet. Ist er kälter geworden, gefühlloser? Zweifellos wird die Polizeiarbeit ihn verändern, aber in so kurzer Zeit kann sein Herz doch noch nicht zu Stein geworden sein.
Immerhin hat er aber schon einen ersten Einblick in sein neues Berufsleben gewonnen, ein Leben, das sich ihm Stück für Stück erschließt und ihm zugleich den Blick in eine ganz neue, unbekannte Welt eröffnet. Da er den größten Teil seines Lebens in seiner Geburtsstadt verbracht hat, hatte er sich eingebildet, die Straßen und Winkel dieser Stadt zu kennen wie seine Westentasche. Er hat bitter erfahren müssen, dass die Wirklichkeit ganz anders aussieht.
Es gibt zwei Welten: Nacht und Tag. In der Nacht begegnet einem das menschliche Elend in seiner ganzen Vielfalt, ohne Gnade, ohne Gefühl. In den vertrauten Winkeln der Stadt, mit denen Olli viele – teils angenehme – Erinnerungen verbindet, verbergen sich Verhältnisse, von deren Existenz er bisher keine Ahnung hatte. Qual, Kummer, Hoffnungslosigkeit, alles, was eine Stadt in den scheinbar friedlichen, stillen Stunden der Nacht nur hervorbringen kann. Der Kontrast zwischen Nacht- und Tagesrealität ist so groß, dass die nächtliche Finsternis bisweilen den Tag zu verschlingen droht.
Es wäre übertrieben zu behaupten, es gebe nur Dunkelheit und die Nacht hülle nur Leid und Qual in ihren schwarzen Mantel. Doch dieser Gedanke kommt einem zwangsläufig, wenn man bei einem Einsatz auf einen notorischen Säufer trifft, der zum wiederholten Mal in unbegreiflicher Grausamkeit und Willkür seine unschuldige, hilflose Familie misshandelt hat. Der seinen Nächsten, den wichtigsten Menschen in seinem Leben, die Menschenwürde unwiderruflich aus dem Leib geprügelt hat. Der es bald wieder tun wird und diesmal vielleicht mit noch glühenderem Hass. Die Furcht in den Augen der jüngsten Kinder ist alarmierend. Ihr Blick ruft um Hilfe, er fordert Maßnahmen, aber letzten Endes sind die Möglichkeiten einzugreifen gering. Man kann nur hoffen, dass die Furcht sich nicht für immer in diesen Kindern einnistet.
Nach jedem Einsatz dieser Art hat sich die Welt ein wenig verändert. Und zwar nicht zum Besseren. Das Schlimmste dabei: Diese Veränderung ist für Olli doch nichts Neues. Schon nach den ersten häuslichen Einsätzen hat er das Gefühl gehabt, dass er zurückgekehrt ist. Zurück in seine Vergangenheit, in die schattige Ecke, in der er sich einen flüchtigen Augenblick lang hocken sah.
Es war während einer Nachtschicht vor einigen Tagen. Olli merkte plötzlich, dass er auf dem Hof vor seinem früheren Elternhaus stand. Ein häuslicher Einsatz lag hinter ihm. Es war gekämpft worden, und zwar hart. Olli und Tossavainen waren bespuckt worden, man hatte versucht, sie zu beißen, und Ollis Uniformjacke war an der Schulter eingerissen. Als er allein auf dem stillen, menschenleeren Hof stand, war Olli auf einmal bewusst geworden, dass er Angst hatte. Wovor? Da war nichts, wovor er sich fürchten musste. Aber trotz Dienstwaffe, Schlagstock, Handschellen und Schutzweste hatte er Angst. Trotz Unterricht im Kampfsport, Selbstverteidigungkurs, guter Kondition und Körperkraft nagte die Angst an ihm. Wie an seinem ersten Arbeitstag, als sein Vater ihn besuchte.
Plötzlich fuhr eine Faust durch die Luft, aber niemand schlug zu. Es war die Vergangenheit,
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