Erfrorene Rosen
die Olli ins Gesicht schlug. Er versuchte vergeblich, in Deckung zu gehen. Wieder die Faust. Ein Schlag. Geschrei. Gefühlschaos, zu viele Gefühle, unkontrollierbar. Gefühle, die Olli sein Leben lang in sich vergraben hat, allerdings bei Weitem nicht tief genug. Niemand weiß von diesen Gefühlen. Nicht einmal Anna. Olli wagt nicht, daran zu denken, wie sich diese verdrängten Gefühle auf sein Leben ausgewirkt haben und welche Bedeutung sie womöglich noch haben werden.
Wieder ein Schlag. Die Garderobe. Sich hinter den Mänteln verstecken. Das hilft nichts. Ein Tritt. Die Stirn schlägt gegen die Hutablage. Blutgeschmack im Mund. Olli reibt sich die Stirn. Er hat sich nicht gestoßen, aber sie schmerzt trotzdem. Auch der Blutgeschmack bleibt.
Es hört sich gerade so an, als hätte seine Mutter nach ihm gerufen, ihn zu sich gerufen. Das gibt ihm ein Gefühl der Sicherheit. Nach diesem Ruf sehnt Olli sich immer noch. So sehr, dass er ihn mitunter ganz deutlich hört. Seltsam, dass die Ohren sich besser erinnern als die Augen. Seit Olli seine Mutter zum letzten Mal gesehen hat, ist so viel Zeit vergangen, dass es ihm mitunter schwerfällt, sich an ihr Aussehen zu erinnern. Er muss Fotos zu Hilfe nehmen, aber auch die reichen nicht aus. Die Erinnerungsbilder gewinnen keine Tiefe. Aber an die Stimme erinnert er sich, als hätte er sie gestern zuletzt gehört. An den Ruf. Das ist immerhin etwas.
Am Grab seiner Mutter ist Olli seit der Beerdigung nicht mehr gewesen. Und er wird auch nicht hingehen. Auch damals war Herbst, der erste richtige Frost. Olli hatte drei Rosen auf den Sarg gelegt, Mutters Lieblingsblumen. Es war so kalt, dass die Rosen erfroren. Eine dünne Eisschicht legte sich auf die Blütenblätter wie ein Schleier, der das Rot der Rosen noch dunkler erscheinen ließ. Als der Sarg ins Grab gesenkt wurde, sank ein großes Stück von Olli mit hinunter. Als hätte es in den Rosen gesteckt. In den erfrorenen Rosen, die er nie vergessen wird.
Es war ihm so ungerecht erschienen. Als hätte man sich auf die schlimmste Art an ihm vergangen. Ihm das Einzige genommen, was er besaß. Und er konnte sich nicht vorstellen, jemals zu verzeihen. Das kann er sich bis heute nicht vorstellen. In dem Moment, als seine Mutter der Erde übergeben wurde, begann Olli den Herbst zu hassen. Dieser Hass scheint von Jahr zu Jahr zu wachsen. Und jetzt ist wieder Herbst.
Olli sucht nach Anna und findet sie in der Küche mit Eetu. Er merkt, dass sie bedrückt ist, geradezu vergrämt, doch sie will ihm nicht sagen, warum. Schließlich erklärt sie, sie habe Eetu betrachtet, als Olli noch schlief. Und Eetu habe sie angesehen. Da sei ihr plötzlich etwas aufgefallen: das Lächeln des Jungen. Ollis Lächeln oder eher das verschmitzte Grinsen, mit dem er sie manchmal ansehe.
Anna hat eine Bitte an ihn. Sie bittet Olli, lässt ihn sogar schwören, bei allem, was er tut, extrem vorsichtig zu sein. Damit sie seine Mimik nicht in Eetus Gesicht zu suchen braucht, weil sie anderswo nicht mehr zu finden ist.
Olli bemerkt die beiseitegeschobene Zeitung, die Anna offenbar vor ihm verstecken wollte. Allem Anschein nach hat sie den Bericht über den gestrigen Vorfall übergenau gelesen. Nun versteht Olli ihre Niedergeschlagenheit. Er verspricht oder vielmehr schwört alles, was sie nur will.
Viertes Kapitel
Bei der Polizei gibt es keinen Stillstand, wie Olli feststellt, als er von seinem Kurzurlaub zurückkehrt. Bei der Arbeit im Privatsektor hat er sich an Unersetzlichkeit gewöhnt. Daran, dass ein Einzelner entscheidende Bedeutung für den Erfolg, ja sogar für die Existenz eines Unternehmens haben kann. Bei der Polizei kommt es auf den Einzelnen nicht an. Wenn ein Mann fehlt, entsteht eine kleine Lücke, so winzig, dass man nicht darüber stolpert, sie allenfalls im Vorbeigehen bemerkt, sich vielleicht fragt, woher sie kommt, aber im nächsten Moment schon weitereilt. Die Polizei ist wie eine Maschine, die sich selbsttätig repariert oder ihr Problem akzeptiert und sich an ihr Humpeln gewöhnt. Sie lebt und atmet, stampft vorwärts, ganz gleich, was geschieht. Nichts scheint ihre Grundfunktionen erschüttern zu können.
Mit dem Rest der Welt steht es anders. Man wird schwerlich jemanden finden, den das Schicksal des erschossenen Jungen nicht berührt hätte. Es ist zum Gemeinbesitz geworden. Auch die höchste Staatsführung steht nicht abseits, die Entscheidungsträger wetteifern bereits darum, wer durch seine eigene, politisch
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