Erfrorene Rosen
Jungen nicht erlebt hat, könnte tatsächlich dazu neigen, ihm Gefühlskälte zu attestieren. Aber Olli hat ihn erlebt und glaubt deshalb nicht unbesehen, dass Tossavainen keinen Genesungsurlaub braucht. Andererseits kann es durchaus stimmen, dass er wegen der Kollegen krankgeschrieben ist. Wenn er unmittelbar nach dem Ereignis am Arbeitsplatz erschienen wäre, hätte es bei der Stimmung, die dort momentan herrscht, vermutlich Probleme gegeben. Die mangelnde Kooperationsbereitschaft der Kollegen wäre ein unhaltbarer Risikofaktor.
»Wie geht es jetzt weiter?«, fragt Olli leise. »Wo fangen wir an?«
Dank langjähriger Erfahrung hat Tossavainen gelernt, ohne übermäßiges Getue zu erledigen, was gerade anliegt. Er weiß, wo es langgeht. Das hat Olli vom ersten Einsatz an gemerkt. Meistens ist Tossavainen fähig, ohne Umwege direkt aufs Ziel zuzusteuern. Jetzt scheint er allerdings in eine Situation geraten zu sein, in der er unzählige Umwege machen muss, denn das Ziel ist nicht zu sehen.
Der Mann hat sich bis zur Taille in ein kleines Digestorium gezwängt. Durch das fleckige Fenster an der Seite blickt er zwischen Fläschchen und Reagenzgläsern hindurch auf das Schild an der Wand, das in strengem Ton das Rauchen in diesem Raum verbietet, führt die Zigarette an den Mund und macht zwei tiefe Züge, saugt den Rauch in den hintersten Winkel seiner Lunge, wo er größtenteils zu bleiben scheint.
»Draußen auf dem Gang ist uns gerade eine Frau begegnet, die genauso aussieht wie du«, erklärt Tossavainen.
Der Mann schert sich nicht um ihn, reagiert überhaupt nicht, sondern raucht genussvoll weiter.
»Hast du das Geld für die Geschlechtsumwandlung schon beisammen?«, fragt er schließlich nach dem letzten Zug aus der bis zum Filter heruntergebrannten Zigarette.
Er steckt die schwelende Kippe in eins der Reagenzgläser, wo sie zischend vor sich hin kokelt. Dann kriecht er unter dem Abzug hervor und dreht sich zu seinen Besuchern um.
»Ein idiotisches Laster«, sagt er so schelmisch, dass man nicht recht weiß, wie man die Bemerkung einordnen soll.
»Wirklich idiotisch«, gibt Tossavainen zurück.
»Fass du dich nur an die eigene Nase.«
»Ich bin Nichtraucher.«
»Was du nicht sagst!«
Bei dem Mann handelt es sich um Kriminalhauptmeister Jaakko Linna, der im Technischen Ermittlungszentrum arbeitet. Olli und Jaakko schütteln sich die Hand. Dann zieht Olli sich wieder in den Hintergrund zurück.
Er lässt den Blick über das Material schweifen, das zur Analyse ins Ermittlungszentrum gebracht worden ist. Lebensdetails, die durch Gipsabgüsse, Klebebänder, Folien und Fotos als Beweismittel fixiert wurden. Gipsabgüsse von Schuhabdrücken haben immer schon eine seltsame Faszination auf Olli ausgeübt. Ein Verbrechen ist geschehen und vom Täter ist nichts zurückgeblieben außer dem in den Erdboden eingeprägten Abbild seiner Schuhsohle. Die Gipsmasse kopiert es und der Abdruck beginnt in seiner eigenen Sprache vielerlei Geschichten zu erzählen. Wenn man den Gipsabdruck genau betrachtet, aus einem ganz bestimmten Winkel, scheint der Täter langsam aus dem Nichts hervorzutreten. Aus winzigen Spuren, Fasern, Fäden, Stofffetzen, Fingerabdrücken und Zeugenaussagen entsteht allmählich eine Gestalt, die sich schließlich in einen lebenden Menschen verwandelt. Und hinter dem fällt dann eine schwere Stahltür zu.
Jaakko Linna ist auf seine Weise ein besonderer Mensch. Würde man hundert Männer gleicher Größe und gleichen Alters neben ihn stellen, würde er nicht besonders hervorstechen. Aber sobald er den Mund aufmacht, ist der Unterschied unübersehbar. Er hat die längsten Zähne, die Olli je an einem Menschen gesehen hat. Wenn Jaakko den Mund aufklappt, verdecken die oberen Schneidezähne die ganze Öffnung. Selbst wenn er den Mund sperrangelweit aufreißen würde, wäre sein Rachen immer noch nicht zu sehen. Seine Zähne gleichen einer weißen Mauer, über die sich die Worte hinwegmogeln müssen. Man könnte wohl sagen, dass dieser Mann keinen Mund im gewöhnlichen Sinn besitzt. Aber die Zähne sind sauber, sauberer als bei manch anderem. Sie strahlen weiß wie reinstes Elfenbein oder makelloses Porzellan, sie gleißen geradezu.
Der Mann hat also allen Grund, den Mund zu halten. Vielleicht hat er sich gerade deshalb um die Stelle im Ermittlungszentrum beworben, wo er nicht mit jedem reden muss. Das heißt allerdings nicht, dass er maulfaul wäre. Im Gegenteil. Er liebt das Sprechen, er liebt
Weitere Kostenlose Bücher