Erfrorene Rosen
Notrettung steht nichts von Umdrehen«, beharrt Tossavainen. »Und in der Meldung der Streife auch nicht.«
»Du weißt so gut wie ich, dass das in klaren Fällen nicht immer notiert wird. Wie soll der Mann denn deiner Meinung nach getötet worden sein?«
»Carotis sinus synkopee zum Beispiel«, sagt Tossavainen und steht auf.
»Was ist das denn?«, fragt Olli. Auch Kylmänen scheint der Begriff fremd zu sein.
»Das ist ein Nervenknoten unter dem Kinn«, erklärt Tossavainen und drückt auf eine Stelle an Ollis Hals, gleich unter dem Kinnbein. »Da braucht man nur mit dem Finger draufzudrücken und der Puls geht so in den Keller, dass man ihn kaum noch spürt.«
Olli weicht zurück, massiert erschrocken die schmerzende Stelle und überlegt, ob sein Puls nachträglich noch absacken kann.
»Davon stirbt man nicht unbedingt sofort und im Allgemeinen normalisiert sich der Puls von selbst wieder, aber es kann auch tödlich ausgehen«, fährt Tossavainen fort. »Vor allem wenn man nicht mehr ganz jung ist.«
»Und davon bleiben keine Spuren zurück?«, fragt Kylmänen.
»Absolut keine. Aber verdammt unsicher ist die Methode schon. Das sollte auch nur ein Beispiel dafür sein, dass man töten kann, ohne Spuren zu hinterlassen. Noch besser ist Insulin. Eine Überdosis wird bei der Obduktion nur entdeckt, wenn man ausdrücklich danach sucht. Jedenfalls muss in diesem Fall die Todesursache gründlich abgeklärt werden. Es passt alles zu gut zusammen.«
Kylmänen durchbohrt Tossavainen förmlich mit seinem Blick, als wolle er in seinen Kopf hineinsehen und feststellen, wie unverbrüchlich seine Überzeugung ist. Tossavainen lässt sich davon nicht beirren, er steht hinter seiner Meinung. Wenn er etwas beschlossen hat, bleibt er auch dabei.
Elftes Kapitel
Es ist schon zweiundzwanzig Jahre her. Und doch hat er das seltsame Gefühl, es sei erst vor einigen Tagen gewesen. Olli beugt sich vor, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, und betrachtet den Grabstein, auf dem der Name seiner Mutter steht. Die Stelle, an der Geburts- und Todestag eingemeißelt sind. Am rechten Rand ziert den Stein eine gemeißelte Rose, Mutters Lieblingsblume.
Olli nimmt die Hände aus den Taschen und entfernt einige Zweige und trockene Blätter von dem reifbedeckten Gras auf der Grabstätte. Dann betrachtet er die steinerne Rose, die aus der glatten schwarzen Fläche des Steins herauszuwachsen scheint. Er berührt sie vorsichtig und lässt die Finger langsam über die raue Fläche gleiten. Die glitzernden Granitpartikel auf den Blütenblättern lassen die Rose aussehen, als sei sie aus Eis. Aus ewigem Eis.
Es ist so friedlich hier, so friedlich, dass Olli es bedauert, seine Mutter nicht schon früher besucht zu haben. Aber sie ist ja gar nicht hier. Olli braucht nirgendwo hinzugehen, um seine Mutter zu suchen. Sie ist in ihm, wo immer er sich aufhält. Die Mutter ist sein Schutzengel und das wird sie immer bleiben. Vielleicht auch für Eetu. Zumindest stellt Olli sich vor, dass sie Großmutter sein will, eine Oma. Auch als Engel.
Jemand bleibt neben Olli stehen. Er blickt auf und sieht Tossavainen. Im selben Moment wird die Stille zerstört, denn ein Stück weiter gräbt sich eine Baggerschaufel lärmend in die Erde.
»Der hat aber nicht lange in Frieden geruht«, sagt ein Friedhofsarbeiter, enthüllt beim Sprechen seine schlechten Zähne und schiebt sich die Schirmmütze aus der Stirn. »Kaum haben wir das Loch zugeschüttet, müssen wir es schon wieder aufreißen. Habt ihr bei dem was vergessen?«
»Sieht so aus«, entgegnet Olli.
Er ist ein wenig enttäuscht. Eigentlich möchte er nicht glauben, dass Henry das gesuchte Opfer ist. Irgendwie passt Henry nicht zu seiner Vorstellung vom auserkorenen Opfer. Andererseits mag Ollis Haltung auch darauf zurückzuführen sein, dass ihre Niederlage besiegelt wäre, wenn Henry sich als das Opfer des Unbekannten erwiese. Und Olli verliert nicht gern.
»Ich hab nie an das Schicksal geglaubt«, erklärt Tossavainen mit leichtem Zögern, als wäre er sich seiner Sache gar nicht mehr so sicher.
»Erinnerst du dich, wie der Herbststurm vor einiger Zeit auf der Esplanade in Helsinki eine Linde umgeknickt hat?«, fragt Olli nach kurzem Überlegen. »Da steht ja eine lange Reihe von Linden, auf beiden Seiten des Parkwegs. Und ausgerechnet unter dieser einen Linde stand jemand.«
»Ja, ich erinnere mich«, nickt Tossavainen. »Ein junges Mädchen. Vom Baum erschlagen.«
»Das Mädchen hatte
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