Erik der Rote oder die Suche nach dem Glück
gelohnt: Wie von Leif vorausgesagt, schritt erhaben ein Renhirsch auf die Lichtung, seine Ohren spielten, mit zurückgelegtem Haupt prüfte er die Witterung, und nachdem er für sich selbst die saftigste Grasstelle erwählt hatte, durfte ihm seine Herde folgen.
Weder Jagen noch Fischen gehörten zu den Vorlieben Tyrkirs, und gern überließ er anderen diese Mühe, aber heute war er von seinem Ziehsohn dazu gedrängt worden: »Komm mit, Onkel, du bringst mir Glück!« Tyrkir rieb sich die Narbe. Nichts kann ich diesem jungen Kerl abschlagen, dachte er. Und seit ihm Erik nach vielem Ringen seinen Knorr für die erste Handelsfahrt versprochen hat, ist es mit meiner Ruhe vollends vorbei.
Leif kaufte seit zwei Jahren von den Fangtrupps, wenn sie mit ihrer Beute aus dem hohen Norden zurückkehrten, Eisbären- und Robbenfelle, die Stoßzähne der Walrösser; sogar drei dieser langen weißen und wundersam gedrehten Spieße des Narwals hatte er erwerben können, und stets musste der Ziehvater bei dem Geschäftsabschluss anwesend sein. »Du bringst mir Glück.«
Mehr noch, Leif bewunderte die Schnitzkunst seines Lehrmeisters. »Speckstein finden wir genug. Wie wär’s, wenn du …?«
Und Tyrkir fertigte in seiner Werkstatt zunächst alleine Töpfe, Becher und Lampen. Weil ihm diese Arbeit bald zu langweilig wurde, hatte er sich geschickte Sklaven herangezogen, die unter seiner Anleitung lernten, mit dem weichen Stein umzugehen. Er selbst schnitzte aus Elfenbein oder Knochen kunstvoll verzierte Broschen und Figuren. Ein Gürtel aus Walrosszahn aber wurde zu seinem Prunkstück. »Onkel, wir werden am Königshof in Norwegen ein Vermögen verdienen.«
Tyrkir bewunderte das Bild vor ihm auf der Lichtung: In großer Ruhe ästen die Rentiere, und senkten und hoben sie die Häupter, glichen ihre verästelten Geweihe einem Wald im Winter; neben dem Hirsch konnte er vierzehn Kühe mit einigen Jungtieren ausmachen. Also sind es fünfzehn kräftige Rene, genau so viele Winter zählt jetzt auch mein Leif, stellte er fest, vielleicht ist diese Zahl für heute ein gutes Omen.
»Hej! Jaaa! Hej!« Der Ruf zerriss den Frieden. »Hej! Jaa! Hej!« Von drei Seiten zugleich brachen Knechte aus dem Buschwerk. Hunde bellten. Die Herde schreckte hoch, nur eine Richtung blieb, und sie floh talabwärts davon.
Tyrkir lief ohne Eile hinter Treibern und Meute her. Von Leif war die Jagdfalle vorbereitet worden, in gleichmäßigen Abständen hatte er Knechte rechts und links der abschüssigen Fluchtschneise aufgestellt, laut schreiend schwangen sie jetzt ihre Knüppel. Die Herde wagte nicht auszubrechen und gehetzt von den hochbeinigen Jagdhunden flüchtete sie aus dem Waldgebiet in eine steil fallende Weide hinein; von beiden Seiten wuchsen Steinreihen auf sie zu, schon gab es kaum noch Raum und die schweren Tiere schnaubten, stießen mit den Leibern aneinander, Geweihe brachen, jedes drängte nach vorn, wollte als Erstes die schmale Fluchtöffnung erreichen. Und ein Ren nach dem anderen verschwand! Keine Rettung: Die steinernen Schenkel mündeten an einer Felsklippe und alle Tiere waren in ihrer Angst über die Kante hinausgesprungen.
Als Tyrkir zum Beuteplatz unterhalb der Steinwand gelangte, lagen die Kadaver bereits ohne Gehörn und aufgebrochen nebeneinander und längst schon hockten Raben in der Nähe und warteten hungrig auf die blutigen Eingeweide.
»Onkel! Ich wusste schon, warum du mich begleiten solltest.« Leif strahlte. »So viele Felle an einem Tag. Ganz abgesehen vom Fleisch. Mutter wird staunen.«
»Solange du nicht planst, jetzt auch Renschinken auf die Warenliste für Norwegen zu setzen, freue ich mich über dein Jagdglück.«
Kurz kratzte Leif in seinem rötlichen Kinnflaum. »Der Gedanke wäre zu überlegen.«
»Beim großen Tyr, vergiss ihn sofort!«
»War nur Spaß«, winkte Leif ab und achtete darauf, dass Leber, Herz und Lungen in die Bäuche zurückgelegt wurden. »Ich bin so weit, Onkel. Lass uns zum Steilhang vorausreiten!« Von den Sklaven mussten die Beutestücke auf Holzgestellen zu Fuß nach Hause geschleppt werden und das benötigte sicher Zeit bis in den Nachmittag.
Nicht mehr Erikshof. Weil Wohnhaus und Wirtschaftsgebäude hoch über der Bucht auf einem weiten ebenen Gelände errichtet waren, hatte das Anwesen des Goden Erik Thorvaldsson den Namen Steilhang erhalten.
Während des Heimritts schwärmte Leif von der Norwegenfahrt Ende Mai und Tyrkir konnte sich auf das einfache Ja oder Nein beschränken, es
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