Erik der Rote oder die Suche nach dem Glück
sollten zurückbleiben. Er musste versuchen, Erik so schnell wie möglich zu erreichen.
Rechtzeitig schaffte er es sicher nicht, aber falls unten bei Spitzklipp oder am Strand ein Kampf entbrannte, vielleicht gelang es ihm mit seinen drei Männern, dem Freund zu helfen.
Der Schnee blendete. Heiß war es. Die Lider fast geschlossen stapfte Thjodhild in kleinen Schritten voran und Hallweig folgte ihren Spuren. Seit einer Stunde hatten die Frauen nicht gesprochen. Jede kämpfte mit der ungewohnten Anstrengung und Schweiß sickerte vom Hals in den Umhangkragen, das Unterzeug klebte auf der Haut. Warum quälen wir uns so?, fragte sich Thjodhild. Wenn es wahr ist, was man vom Schneefels erzählt, dann hat er uns längst bemerkt. Das muss ihm genügen. Entschlossen blieb sie stehen und wandte sich um: »Sollen wir noch weiter hinauf?«
Hallweig trat in ihren Schatten. »Ich dachte schon, du hättest mich vergessen. Ja, kehren wir um und lassen dem Gletscher seine Ruhe!« Kaum hatte sie ausgesprochen, verlor ihr rundliches Gesicht alle Farbe. »Da! O Freya, steh uns bei!« Sie starrte über die Schulter der Freundin den Schneehang hinauf. »Da! Sieh doch!«
Thjodhild riss den Kopf herum. Eine Wolke sank von der Höhe des Gletschers auf sie zu. Der Himmel darüber blieb blau, rechts und links von ihr strahlte weiter der Tag im Sonnenlicht. Nein, keine Wolke, es war ein riesiger, rund geballter grauer Nebel; aus seinem Innern fingerten schwarze Fäden, die außerhalb zu wabernden Schlingarmen wurden. »Der Schneefels …«, stammelte sie. »Sein Geist. Die Leute haben nicht gelogen.«
Lautlos näherte sich das Gebilde. Thjodhild dachte an Flucht, weglaufen, verstecken. Sofort wucherte der Nebel und füllte die Breite des Schneehangs aus. Zu spät, obwohl er sie noch nicht erreicht hatte, waren sie ihm ausgeliefert. Hallweig zitterte, griff sich stöhnend ans Herz, ihre Lippen färbten sich blau.
»Bleib ruhig!« Thjodhild stützte sie. »Ganz ruhig. Komm, wir setzen uns!« In ihrem Arm erschlaffte die Freundin. Mit Mühe hielt Thjodhild sie fest, ließ sich langsam rückwärts in den Schnee niedersinken und bettete den Kopf auf ihrem Schoß. »Gleich geht es dir besser.«
»Was … was ist?«, hauchte Hallweig mit geschlossenen Augen. Sie tastete nach der Hand an ihrer Wange und hielt sie fest. »Der Gletscher straft uns.«
»Nein, hab keine Angst! Ich bin bei dir.« Thjodhild sah hoch. Sie konnte nicht schreien. Direkt über ihnen wogte der Nebel, zog sich zusammen, dehnte sich aus wie ein graues schlagendes Herz, seine schwarzen Schlingarme pendelten um die beiden Frauen und setzten im Schnee auf, jetzt sank der Leib auf sie herab. Schützend beugte sich Thjodhild über Hallweig. Der Dunst hüllte sie ein. Keine Schwere empfand Thjodhild, nur Stille, schmerzhafte Stille.
Ehe Tyrkir unterhalb der Uferstraße die drei hochragenden Buckelberge erreicht hatte, hörte er bereits das Schlagen von Eisen gegen Eisen, das Brüllen der Kämpfer. Schneller rannte er; seine Begleiter konnten nicht mehr Schritt halten; aus der Senke inmitten von Spitzklipp stieg der Lärm; Tyrkir hetzte auf einen Sattel zwischen den Hügeln. Sein erster Blick galt Erik. Der Freund wehrte sich mit Schild und Axt gegen zwei Feinde. Wie Schweißhunde sprangen sie vor dem Hünen hin und her, stachen mit ihren Speeren nach ihm und versuchten, seine Deckung zu durchbrechen. Einer von ihnen war Odd.
Mit dem zweiten Blick erfasste Tyrkir unter sich das Ausmaß des Grauens. Quer über den Platz verstreut lagen die Geschlagenen, da und dort wälzte sich noch ein Mann in seinem Blut. Unsere Knechte sind alle kampfunfähig oder tot, stellte er entsetzt fest, auch vier der Gegner sind besiegt. Doch die beiden letzten bedrängten Erik hart; und immer wieder wich er aus, ihre wilden Angriffe drängten ihn rückwärts Schritt für Schritt weiter in die Mitte der Senke.
Tyrkir sah sich nach seinen drei Männern um, fast hatten sie ihn erreicht. »Beeilt euch!« Er blickte wieder hinunter. »Halt durch, Erik. Wir kommen!«
Da raffte sich einer der Verletzten auf. Toke, der zweite Sohn des Bauern, kam wieder auf die Füße. In seiner Faust blinkte ein kurzes Schwert. Wie blind torkelte er herum, dann fand er die Kämpfenden. Mit ausgestreckter Klinge bewegte er sich auf den Rücken des Roten zu.
Jetzt blieb keine Zeit mehr, auf Verstärkung zu warten. Tyrkir hetzte los, im Lauf griff er nach der Axt an seinem Gürtel, ruckte, zerrte, die Waffe glitt nicht aus
Weitere Kostenlose Bücher