Erinnerung Des Herzens
anderen Bedürfnisse aufs Spiel zu setzen. Sie döste vor sich hin, der Wein und ihre Gedanken hatten sie müde gemacht. Beim ersten Stoß wachte sie unsanft auf und verwünschte sich, weil sie fast in Panik geraten war. Bevor sie sich noch entspannen konnte, drehte das Flugzeug scharf nach links ab. Sie biss sich auf die Zunge und spürte gleich darauf den Geschmack von Blut in ihrem Mund. Aber schlimmer, viel schlimmer war die Angst.
»Bleiben Sie ruhig sitzen, Miss Summers. Wir verlieren Druck.«
»Verlieren ...« Sie unterdrückte gewaltsam den ersten Anflug von Hysterie. Die Stimme des Piloten hatte so geklungen, dass ihr klar war, Schreien würde nichts nützen. »Was bedeutet das?«
»Wir haben ein kleines Problem. Wir sind nur noch zehn Meilen vom Flughafen entfernt. Bleiben Sie ruhig und angeschnallt.«
»Ich werde bestimmt nicht irgendwo hingehen.« Julia wunderte sich selber, dass sie diesen Satz noch herausgebracht hatte. Dann steckte sie den Kopf zwischen ihre Knie. Das half gegen das Schwindelgefühl, fast auch gegen die Panik. Als sie sich zwang, die Augen wieder zu öffnen, sah sie, wie ein Stück Papier unter dem Sitz hervorrutschte, während das Flugzeug zu tauchen schien.
Brenn aus, brenn aus, kleine Kerze.
»Oh, du lieber Himmel!« Sie griff nach dem Zettel und zerdrückte ihn in ihrer Hand. »Brandon. Oh, Gott, Brandon!«
Sie würde nicht sterben. Sie durfte es nicht. Brandon brauchte sie. Sie unterdrückte die Übelkeit. Ein Behälter über ihr öffnete sich, Kissen und Decken fielen heraus. Gebete schössen ihr durch den Kopf, und sie hörte das Dröhnen der Maschine und die lauten Rufe des Piloten in die Sprechanlage. Gleich würden sie landen.
Julia richtete sich auf und riß ihren Notizblock aus der Aktentasche. Sie schauderte zusammen, als sie durch eine dünne Wolkenschicht fielen. Ihre Zeit war bald zu Ende. Sie kritzelte eine kurze Nachricht für Paul hin, bat ihn, sich um Brandon zu kümmern, sagte ihm, wie dankbar sie war, dass sie ihn gefunden hatte.
Sie fluchte, als ihre Hand so zu zittern anfing, dass sie den Schreibstift nicht mehr halten konnte. Dann war es plötzlich ganz still. Sie brauchte einen Augenblick, um das zu registrieren, und noch etwas länger, um zu begreifen, was es bedeutete.
»Oh, mein Gott!«
»Kein Kraftstoff mehr«, sagte der Pilot zwischen den Zähnen. »Die Maschinen ausgefallen. Wir haben guten Rückenwind. Ich werde das Baby jetzt herunterbringen. Sie sind auf uns vorbereitet.«
»Okay. Wie ist Ihr Name? Ihr Vorname?«
»Jack.«
»Okay, Jack.« Sie holte tief Luft. Sie war immer der Meinung gewesen, dass man mit festem Willen und Entschlossenheit fast alles regeln konnte. »Ich bin Julia. Bringen Sie das Ding auf den Boden zurück.«
»Okay, Julia. Leg jetzt deinen Kopf zwischen die Knie und halt die Hände über den Kopf. Und sprich jedes verdammte Gebet, das du kennst.«
Julia atmete noch einmal tief ein. »Bin schon dabei.«
22
Paul spielte mit Brandon Basketball. Sie schwitzten beide. Brandon entdeckte seine Mutter zuerst, als sie den Weg zum Gästehaus entlangkam. »Mama! Hey, Mama! Schau nur, was Paul hier alles angebracht hat. Er hat gesagt, ich darf es benutzen, solange wir hier sind. Und beim ersten Spiel habe ich ihn geschlagen.«
Sie ging langsam, musste langsam gehen. Aber als sie ihr Kind sah, das Gesicht bedeckt von Schweiß und Schmutz, sein breites Grinsen, seine aufgeregten Augen, fing sie an zu laufen. Sie hob ihn hoch, drückte ihn ganz fest an sich und vergrub ihr Gesicht an der zarten, feuchten Haut seiner Kehle.
Sie lebte! Und sie hielt ihr Leben in ihren Armen.
»Mama.« Er wusste nicht recht, ob er verlegen werden sollte oder sich bei Paul entschuldigen sollte. Er rollte die Augen, um zu zeigen, dass das etwas war, womit er halt leben musste. »Was ist los?«
»Nichts.« Sie musste schlucken und sich zwingen, ihren Griff zu lockern. Wenn sie jetzt anfing zu reden, würde sie ihn nur erschrecken. Und es war ja vorbei. »Nichts. Ich freue mich nur, dich zu sehen.«
»Du hast mich doch heute Morgen gesehen.« Seine Verblüffung wich echtem Erstaunen, als sie ihn losließ und Paul ebenso wild und besitzergreifend umarmte.
»Euch beide«, sagte sie, und Paul konnte spüren, wie wild ihr Herz schlug. »Ich bin nur froh, euch beide zu sehen.«
Schweigend nahm Paul ihr Gesicht in seine Hände und blickte sie an. Er bemerkte die deutlichen Anzeichen von Schock, von Streß, von Tränen. Er gab ihr einen langen,
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