Erinnerung Des Herzens
keine Zeit.«
Julia schreckte hoch, dann drehte sie sich schnell um. Sie hatte Paul nicht kommen gehört und keine Ahnung, wie lange er schon hinter ihr stand und über ihre Schulter blickte. »Was würden Sie mit jemandem tun, Mr. Winthrop, der unaufgefordert in Ihrem Manuscript liest?«
Er lächelte und machte es sich in einem gegenüberstehenden Sessel bequem. »Ich würde ihm all die neugierigen kleinen Fingerchen abschneiden. Aber, wissen Sie, ich bin dafür bekannt, dass ich schrecklich unbeherrscht bin.« Er nahm ihr Glas in die Hand und nippte daran. »Und wie ist es mit Ihnen?«
»Man scheint anzunehmen, dass ich gute Manieren habe. Aber das kann ein schwerer Fehler sein.« Es paßte ihr nicht, dass er hier war. Er hatte sie bei der Arbeit unterbrochen und war in ihre Privatsphäre eingedrungen. Sie trug Shorts und ein ausgebleichtes T-Shirt, hatte keine Schuhe an und das Haar zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden. Ihr sorgfältig aufgebautes Image war zum Teufel.
Sie warf einen ausdrucksvollen Blick auf ihr Glas, das er gerade wieder an die Lippen führte. »Soll ich Ihnen ein eigenes holen?«
»Nein, dies ist sehr gut.« Es amüsierte ihn, dass sie sich so offensichtlich unbehaglich fühlte, und er freute sich darüber, dass man sie so leicht durcheinanderbringen konnte. »Das erste Interview mit Eve hat bereits stattgefunden.«
»Gestern.«
Er zog eine Zigarre hervor und hatte offensichtlich die Absicht, es sich hier gemütlich zu machen. Sie schaute sich seine langen Finger an. Besser geeignet, den Silberlöffel zu handhaben, mit dem er auf die Welt gekommen war, dachte sie, als die komplizierten, oft grausigen Morde auszuführen, mit denen er seine Buchseiten füllte.
»Es ist mir klar, dass ich nicht in einem Büro sitze«, sagte sie, »aber ich arbeite.«
»Ja, das sehe ich.« Er lächelte freundlich. Sie musste sich schon etwas Besseres ausdenken als leichte Andeutungen, wenn sie ihn verscheuchen wollte. »Möchten Sie mir nicht Ihre Eindrücke von dem ersten Interview mitteilen?«
»Nein.«
Keineswegs eingeschüchtert, zündete er seine Zigarre an und legte dann einen Arm um die Rücklehne des schmiedeeisernen Sessels. »Für jemanden, der mit mir zusammenarbeiten will, sind Sie sehr unfreundlich.«
»Für jemanden, der meine Arbeit missbilligt, sind Sie sehr interessiert daran.«
»Nicht Ihre Arbeit.« Er streckte die Beine aus, überkreuzte die Füße, nahm einen kurzen Zug und stieß den Rauch wieder aus. Ein aufdringlich männlicher Duft nach Rauch erfüllte die Luft. Er überlagerte den Duft der Blumen, als ob ein Mann seinen Arm um eine widerstrebende Frau legte. »Ich missbillige lediglich Ihr gegenwärtiges Projekt. Ich habe ein persönliches Interesse daran.«
Sie stellte fest, dass seine Augen das Eindrucksvollste an ihm waren. Es war nicht die Farbe, obwohl viele Frauen ihr tiefes Blau gewiss unwiderstehlich fanden. Es war sein Blick, dieser unwahrscheinlich durchdringende Blick, der Julia das Gefühl gab, er schaute sie nicht an, sondern in sie hinein.
Der Blick eines Jägers, sagte sie sich, und sie war nicht bereit, zur Beute irgendeines Mannes zu werden.
»Wenn Sie besorgt darüber sind, ich könnte irgend etwas Unfreundliches über Sie schreiben, brauchen Sie sich keine weiteren Sorgen zu machen. Ihre Rolle in Eves Biographie wird kaum mehr als den Bruchteil eines Kapitels ausmachen.«
Das war von Autor zu Autor eine handfeste Beleidigung, aber es ging ihm nicht um sein Ego. Er lachte nur und mochte sie dafür umso mehr. »Erzählen Sie mir eines, Jules, haben Sie nur etwas gegen mich oder gegen alle Männer?«
Die Frage an sich brachte sie nicht so sehr aus der Fassung wie die Verwendung ihres Spitznamens. Es war wie ein Kuß anstelle eines Handschlags. »Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
»Natürlich wissen Sie das.« Er lächelte noch freundlicher, aber sein Blick war eine Herausforderung. »Es ist mir noch nicht gelungen, all die kleinen Dornen von unserer ersten Begegnung herauszuziehen.«
Sie fuchtelte mit ihrem Füller herum und wünschte sich, er würde endlich gehen. Er war jetzt entschieden zu entspannt, wodurch ihre innere Anspannung nur noch mehr wuchs. Bei Männern mit seinem Selbstbewusstsein musste sie immer um ihr eigenes kämpfen. »Soweit ich mich erinnere, kam der erste Angriff von Ihnen.«
»Mag sein.« Er lehnte sich im Sessel zurück und beobachtete sie. Noch wusste er nicht genau, wie er sie einzuschätzen hatte, aber er
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