Erinnerung Des Herzens

»Wie lange arbeiten Sie schon für sie?«
    »Eigentlich erst ein paar Jahre, aber ich kenne sie schon, solange ich zurückdenken kann. Tante Dottie hat mich immer übers Wochenende und in den Sommerferien eingeladen.«
    »Tante Dottie?«
    »Travers.«
    »Travers?« Julia verschluckte sich fast an ihrem Kaffee, während sie versuchte, sich eine so enge Verbindung zwischen der aufgeschlossenen CeeCee und der Haushälterin mit dem verkniffenen Mund und den mißtrauischen Blicken vorzustellen. »Sie ist Ihre Tante?«
    »Yeah. Die ältere Schwester meines Vaters. Travers ist eine Art Künstlername. In den fünfziger Jahren hat sie, glaube ich, ein paar Filme gedreht. Aber sie ist nie richtig berühmt geworden. Sie arbeitet schon eine Ewigkeit für Miss B. Schon eine ziemlich verrückte Sache, wenn man daran denkt, dass sie beide mit dem gleichen Mann verheiratet waren.«
    Diesmal war Julia so geistesgegenwärtig, die Kaffeetasse schnell abzusetzen. »Bitte?«
    »Anthony Kincade«, erklärte CeeCee. »Sie wissen doch, der Regisseur. Tante Dottie war zuerst mit ihm verheiratet.« Ein Blick auf die Uhr brachte sie in Bewegung. »Wow, ich muss gehen. Um zehn fängt der Unterricht an.« Sie stürmte ins Wohnzimmer, um ihre Bücher und die Tasche zu holen. »Ist es in Ordnung, wenn ich morgen die Bettwäsche wechsele? Und darf ich meinen kleinen Bruder mitbringen? Er möchte Brandon so gern kennenlernen.«
    Julia nickte, noch ganz benommen von den Neuigkeiten, die CeeCee ihr berichtet hatte. »Natürlich. Wir freuen uns darauf.«
    CeeCee grinste ihr zu. »Darüber reden wir lieber erst, wenn er mal ein paar Stunden hiergewesen ist.« Krachend warf sie die Tür hinter sich ins Schloß.
    Auch das konnte Julia nicht aus ihren Gedanken reißen. Anthony Kincade. Dieser verbitterte Fleischberg war der Ehemann der glanzvollen Eve und der einsilbigen Haushälterin gewesen. Die Neugier trieb sie durch das Wohnzimmer in ihr gegenwärtiges Büro, zu ihren Nachschlagewerken. Ein paar Minuten lang schimpfte sie leise vor sich hin und fluchte, weil sie nie auf Anhieb etwas wiederfinden konnte. Nichts war jemals an dem Platz, wo sie es zuletzt hingetan hatte.
    Aber sie würde jetzt Ordnung machen, bestimmt, das schwor sie dem unbekannten Heiligen, der zuständig sein mochte für zerstreute Autoren. Gleich nachdem sie ihre Neugier befriedigt hatte, würde sie eine Stunde damit verbringen, na ja, fünfzehn Minuten, alles in Ordnung zu bringen.
    Das Gelübde zeitigte auf der Stelle Erfolg. Mit einem Triumphschrei stürzte sie sich auf das gesuchte Buch und fand augenblicklich in Who's Who die Angaben, die sie interessierten.
    Kincade, Anthony, las sie. Geboren in Hackensack, N.J. 12. November 1920 ... Seinen Werdegang, seine Erfolge und Mißerfolge, ließ Julia aus. Verheiratet mit Margaret Brewster, 1942, zwei Kinder, Anthony jr. und Luise, geschieden 1947. Verheiratet mit Dorothy Travers, 1950, ein Kind, Thomas, verstorben, geschieden 1953. Verheiratet mit Eve Benedict 1954, geschieden 1959.
    Es folgten noch zwei weitere Eheschließungen, aber das interessierte Julia nicht. Es war zu faszinierend, über das sonderbare Dreieck nachzudenken. Der Name Dorothy Travers kam ihr irgendwie bekannt vor. Sie war drei Jahre lang mit Kincade verheiratet gewesen und hatte ihm einen Sohn geboren. Ein Jahr nach der Scheidung hatte Kincade Eve geheiratet. Und jetzt war Travers Eves Haushälterin.
    Wie konnten zwei Frauen, die dem gleichen Mann angehört hatten, zusammen unter einem Dach leben?
    Das war eine Frage, die sie klären musste. Aber zunächst wollte sie Eve die anonymen Zettel zeigen, die sie erhalten hatte, in der Hoffnung auf eine Reaktion und vielleicht sogar auf eine Erklärung. Julia stieß das Nachschlagewerk beiseite. Ihren Pakt mit dem Kummer gewöhnten Heiligen hatte sie bereits wieder vergessen.
    Eine Viertelstunde später öffnete Travers ihr die Tür. Als Julia die Frau mit dem strengen, unzufriedenen Gesicht und dem vorgewölbten Bauch betrachtete, fragte sie sich, wie sie denselben Mann gereizt haben konnte wie die hinreißend attraktive Eve.
    »Im Fitneßraum«, murmelte Travers.
    »Bitte?«
    »Im Fitneßraum«, wiederholte die andere und führte sie unwillig hin. Sie kamen in den Ostflügel und gingen einen langen Korridor entlang, der mit vielen Nischen in der Wand ausgestattet war. In jeder stand eine Statue von Erte. Rechts befand sich ein größeres Bogenfenster, das auf den mittleren Innenhof führte, wo Julia den Gärtner bei