Erinnerungen der Nacht
Fräulein in der Nähe Beeren pflückten. Keine sah den Wolf. Aber ich.“
„Ein Wolf?“ Rhiannons Augen wurden groß, ihre Hand auf seinem Schenkel reglos. „Der sich an das Kind anpirschte? Was hast du getan?“
„Zuerst war ich starr vor Angst. Dann sah das Baby zu mir und lächelte. Es gab dieses blubbernde Gurren von sich und fuchtelte mit den Ärmchen in der Luft.“ Roland schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, aber ich zückte das Messer, die einzige Waffe, die ich besaß, und sprang den Wolf an, als er sich das Kind holen wollte. Es war eine närrische Tat. Ich wäre beinahe in Stücke gerissen worden.“
Sie richtete sich langsam auf und sah ihn an. Ihn überraschte, dass sie rasch blinzelte, um Feuchtigkeit aus ihren Augen zu vertreiben. Ihr Gesicht war seinem so nahe, dass er ihren hechelnden Atem spüren konnte. „Hast du diesen Wolf getötet, Roland?“
„Ja, offenbar. Nach den ersten Bissen kann ich mich an fast nichts mehr erinnern.“ Sie schloss die Augen und erschauerte heftig. Ihr Haar fiel über ein Auge; Roland streckte ohne nachzudenken die Hand aus und strich es zurück. Er ließ die Finger zärtlich auf ihrem Gesicht verweilen. Und er dachte, er würde in ihren Augen versinken, diesen großen, exotisch schrägen schwarzen Augen. „Als ich wieder zu mir kam, lag ich in einem weichen Bett, wo sich Diener um mich kümmerten. Das Kind war der Enkel eines großen Barons und Sohn eines Ritters gewesen, Sir Gareth de Le Blanc. Als ich genesen war, machte er mich zu seinem Knappen. Zwei Jahre behandelte er mich fast wie einen Sohn. Er brachte mir alles bei, was ich wissen musste, und ließ mich im Burghof mit seinen Rittern trainieren.“
„Und mit deiner störrischen Entschlossenheit, die ich an dir kenne, hast du dieses Training sicherlich verbissen ernst genommen. Du bist mit jedem Tag stärker und gewandter geworden.“
Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe mir ein paar Grundkenntnisse angeeignet.“
„Erzähl mir den Rest.“ Wie ein Kind, das seine Gutenachtgeschichte will, dachte er träge, während er mit den Fingern weiter durch ihr Haar strich.
„Eines Tages war ich mit Sir Gareth unterwegs. Er wollte an einem Turnier teilnehmen. Natürlich waren noch andere unterwegs, Ritter und deren Knappen, die mit uns ritten. Eine Bande von Rittern, die in Treue zu einem eingeschworenen Feind von Gareths Vater standen, lauerte in einem Hinterhalt.“
Sie sagte nichts, aber sie hob die Hand und berührte sein Gesicht, als könnte sie die Qual der Erinnerungen dort sehen. „Gareth und die anderen kämpften erbittert und töteten einige, aber die Übermacht war einfach zu groß.“ Er schüttelte langsam den Kopf, während die Vergangenheit wieder lebendig wurde, als wäre es gestern gewesen. Das Klirren von Stahl auf Stahl. Die Schreie und das Stöhnen der Gefallenen. Das panische Wiehern der Pferde. Die donnernden Hufe.
„Als Gareth stürzte, geschah etwas mit mir. Ich weiß nicht, was. Ich zerrte ihn vom Schlachtfeld ins Gebüsch und zog ihm Helm und Kettenhaube ab. Mit seinem letzten Atemzug drückte er mir das Schwert in die Hand und bat mich weiterzukämpfen.“
„Aber du warst noch ein Knabe!“
Er schüttelte den Kopf. „Mit sechzehn war man damals fast schon ein Mann, Rhiannon. Das weißt du. Ich verlangte, dass mich die anderen Knappen unterstützten, als ich Gareths Brustpanzer und Armschienen abnahm und selbst anlegte. Es schien ewig zu dauern, aber wir schafften es in wenigen Minuten. Ich zog Kettenhaube und Helm auf und streifte mir Gareths Handschuhe über. Mit seinem Schwert in der Hand und einer Eiseskälte im Herzen marschierte ich mitten in das Schlachtgetümmel. Eine Kraft, die ich nicht kannte, trieb mich an. Das war der Dämon, den ich damals in meiner Seele entdeckt habe. Ich fand das Pferd meines Meisters, einen enorm großen Wallach, der Geschmack am Kampf hatte, und bestieg es.“
„Und du hast an seiner Stelle gekämpft“, hauchte sie.
„Mehr als gekämpft. Ich war außer mir. Ich kann mich an kaum etwas erinnern, außer dass ich endlos das Schwert geschwungen habe, das mit wuchtigen Hieben sein Ziel fand. Ich erinnere mich an den Lärm, die Schreie der Gefallenen und meinen eigenen Schlachtruf. Ich war ein besessener Mann, Rhiannon. Als die Schlacht zu Ende war, war nur noch ich übrig. Rings um mich herum lagen tote Männer.“
Er schüttelte die Erinnerungen ab und sah in Rhiannons Augen. Schockiert sah er, dass
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