Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
»Spurensuche« realisieren, wieder begleitet und unterstützt von Stephan Schlensog, dem Geschäftsführer unserer Stiftung. Verständlicherweise hatte der Film über das sensible Thema Religion in der Volksrepublik China seine eigenen Schwierigkeiten. Unsere Verhandlungen bezüglich einer Dreherlaubnis in China sind eine Zeit lang festgefahren. Doch werden sie vom Schweizer Botschafter Dr. ULI SIGG , langjähriger Freund von Parteichef Jiang Zemin (seit 1989), wieder in Gang gebracht. Schließlich erhalten wir die Erlaubnis für alle unsere Filmaufnahmen und können, begleitet von einem Aufpasser der China Central Television (CCTV) und wechselnden Aufpassern von Partei und lokalen Behörden, hervorragende Aufnahmen machen an hochrangigen Stätten chinesischer Kultur.
Der Film beginnt mit einer traditionellen chinesischen Totenfeier. Die drehen wir aber aus Praktikabilitätsgründen nicht in China, sondern in der pulsierenden von Chinesen errichteten Metropole Singapur, der »Löwenstadt«. Dazu fahren wir in den frühen Nachtstunden durch Singapurs neue Viertel: endlose hohe Wohnblocks mit Arkaden. Und hier will man mir eine traditionelle chinesische Totenfeier zeigen? Ja, gerade hier. Im Parterre, in einem in leuchtendem Gelb ausstaffierten Saal, wird die Trauerfeier vollzogen von daoistischen Priestern, in der chinesischen Trauerfarbe Weiß gekleidet. Mit kleinen Glocken, Musik und Gesang hat das Ganze einen eher festlichen als traurigen Charakter. Die kleine Prozession zieht mehrfach um eine in der Mitte aufgestellte große Laterne, deren brennende Kerze als Symbol dient für die Seele, die in die Höhe steigen soll.
Totenfeiern sind für Chinesen sehr wichtig. Denn im Zentrum der chinesischen Religion steht seit Urzeiten die Ahnenverehrung . Leben nach dem Tod ist für Chinesen selbstverständlich. Mich hat immer wieder der innere Zusammenhalt der chinesischen Familie erstaunt – bei der weitverzweigten Familie Ching etwa über alle Grenzen der Generationen, der Nationen und sogar der Kontinente hinweg. Zum Begriff der Familie gehören für die Chinesen aber auch wesentlich alle Verstorbenen, die Ahnen eben. Deshalb errichtet man in chinesischen Familien überall kleine Altärchen, auf denen nach dem Begräbnis das Bild des Verstorbenen aufgestellt wird. Nicht mehr mit den Ahnen kommunizieren zu dürfen (etwa aufgrund unsinniger vatikanischer Verbote) war und ist für viele Chinesen ein Hauptgrund, sich nicht dem Christentum zuzuwenden.
Weitere Drehorte sind mir von früheren Reisen bekannt: Guilin , Chengdu und Qufu, der Geburtsort des Konfuzius. Jetzt aber – nach dem Qingcheng Shan, dem heiligen Berg der Daoisten – auch der mythische Taishan , Chinas heiligster Berg. Schon mit der Weltschöpfung wird er in Verbindung gebracht. Die meisten Kaiser haben wenigstens einmal in ihrem Leben diesen heiligen Berg bestiegen, um gerade hier dem Himmel zu opfern und damit ihrem Namen als »Sohn des Himmels« gerecht zu werden. Noch heute ist es eine gewaltige Tempelanlage, auch wenn manche der früher über 800 Sakralbauten zerstört worden sind. Sie zählt mit dem Kaiserpalast in Peking zu den bedeutendsten Bauwerken der klassischen Architektur.
Viele Chinesen kommen heute wieder zu den alten Tempeln, Gläubige und Ungläubige. Die chinesische Volksfrömmigkeit ist keineswegs ausgestorben. Zahlreich die Götter mit ihren eigenen Zuständigkeiten: Erdgottheiten, Strom- und Flussgottheiten, Herdgötter, Hausgeister, Krankheitsdämonen … alles hilfreiche oder gefährliche Wesen, anzurufen oder mit bestimmten Riten abzuwehren.
Ich sehe noch das sympathische chinesische Pärchen hoch oben auf dem Taishan vor mir, wie es rote Bändchen an einen Busch heftet – Wünsche und Bitten von Gläubigen. Andere legen Steine auf die Äste – zur Befreiung von ihren Sorgen. Solche Bräuche finden sich in allen Kulturen der Erde, sie sollten nicht vorschnell als obsolete Praxis einer überholten Zivilisation abgetan werden. Allerdings ist mir im Hinblick auf die marxistische Religionskritik wichtig, Religion klar vom Aberglauben abzugrenzen – wie ich dies bereits 1979 in meinem Vortrag an der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften in Peking getan habe.
20 Jahre später auf dem Taishan mahne ich es in meinem Film-Statement an: Aberglaube ist, wenn ich einem Irdisch-Relativen absolute, göttliche Kraft oder Macht zuschreibe, wenn ich also eine menschliche Person vergöttere (wie das auch im modernen
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