Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
stellt und so »dem oft vernachlässigten Begriff der Verantwortung sein notwendiges Gewicht gibt« (S. 103). Die Teilnehmer des Symposions diskutieren intensiv die komplexen Begriffe »globales Ethos« und »traditionelle chinesische Ethik«. Die Letztere »beinhaltet nicht nur die konfuzianische Ethik, sondern auch die buddhistische und daoistische wie auch Sitten und Gebräuche der chinesischen Volksreligion«. Schließlich wird auch auf die »jüngsten Veränderungen und Prüfungen« hingewiesen (S. 103), womit wohl auch auf die von Mao und der »Viererbande« gewaltsam durchgeführte »Kulturrevolution« und ihre zahllosen Opfer angespielt wird.
Aber mich interessiert natürlich in erster Linie, was nun nach dem Urteil dieses kompetenten Gremiums der spezifisch chinesische Beitrag zu einem Weltethos sein könne. Vier Punkte werden von den Chinesen herausgehoben.
– Der spezifisch chinesische Zugang : Als zentraler Wert und Basis des Beitrags der traditionellen Ethik zum Weltethos wird die »Harmonie in Verschiedenheit« bezeichnet (S. 103 f).
– Gemeinsame ethische Imperative : Prämisse eines gemeinsamen Menschheitsethos ist die Anerkennung der Vielfalt und Unterschiede der Individuen. Nur so lassen sich im Geist der Gemeinsamkeit in unterschiedlichen Völkern und Gemeinschaften jene gemeinsamen ethischen Imperative vertreten, die in der Weltethos-Erklärung von Chicago dargelegt und in jedem moralischen oder religiösen Schrifttum in oft überraschend identischer Weise formuliert sind: »nicht töten«, »nicht stehlen«, »nicht lügen«, »nicht sexuellen Missbrauch zulassen« (S. 104).
– Spezifisch chinesische Begriffe : Als Begriffe, die der Formulierung des Weltethos eine spezifisch chinesische Farbgebung oder auch dem Geist und dem Wert des Weltethos eine noch höhere Autorität verleihen können, wurden diskutiert: »tiando«: »Weg des Himmels«, »tianli«: »Lehre, Gesetz des Himmels«, »renci«: »Mitgefühl, Barmherzigkeit«, »ren«: »Mitmenschlichkeit«, »minbaowuyu«: »die Sorge um Menschen und Dinge«, »shengsheng«: »Lebenskraft«, »zhongshu«: »vergebende Treue«, »zhongyong«: »die goldene Mitte«, »li«: »Sinn für angemessene Umgangsformen«, »xiao«: »Pietät«, »liangzhi«: »Gewissen«, »ceyin«: »Mitgefühl«, »zhichi«: »Schamgefühl«, »guiyi«: »Sinn für Gerechtigkeit«, »zhongxing«: »Wichtigkeit des Tuns«, und andere mehr (S. 104 f).
– Die beiden Grundprinzipien Humanität und Gegenseitigkeit : Die »beiden uralten chinesischen Lehren«: »Wer Mitmenschlichkeit übt, ist ein wahrer Mensch« (»renzherenye«) und »Was du nicht willst, das man dir tut, das tue auch keinem anderen« (»zisuobuyu, wushiyuren«) (S. 105).
Zu Recht betonen die Teilnehmer der Konferenz, »dass ein Weltethos ein offenes System sei; seine Vision ist ein Ausgangspunkt und kein Zielpunkt: Wir müssen uns weiterhin auf der Grundlage gegenseitiger Toleranz und gegenseitigen Verstehens um Dialog und Verständigung bemühen« (S. 105). Zum Abschluss drücken die chinesischen Gelehrten eine dreifache Hoffnung aus, die auch die meine ist: »Wir hoffen:
– dass die Vision eines Weltethos zu voller Entfaltung, Verbreitung und Verwirklichung gelange; sie möge der Errichtung einer moralischen Ordnung für die regionalen wie internationalen Beziehungen aller Völker und Nationen dienen;
– dass die Vision eines Weltethos weitere Fortschritte macht und die Standpunkte aufnimmt und angleicht – von Repräsentanten aus den Religionen, der Politik, den Wissenschaften und all den anderen Bereichen eines jeden Volkes und einer jeden Kultur;
– dass die Vorstellung vom Weltethos und den individuellen Pflichten zum gemeinsamen Bewusstsein aller Bürger, aller Organisationen und aller Nationen wird, um so die ethische Situation Chinas wie der Welt zu verbessern.«
Doch ich gestehe, auch ich – kein Utopist, sondern Realist – habe mich manchmal gefragt: Ein Dokument von 24 Gelehrten – was soll es bewirken in einem Volk mit knapp 1,4 Milliarden Einwohnern? Gewiss, ein ins Wasser geworfener Stein erzeugt Wellen – aber wie weit tragen sie? Doch ist es erstaunlich, wie rasch sich die Idee eines gemeinsamen Menschheitsethos ausbreitet und auch in China breite Anerkennung findet.
Chinesische Religionen im Film (1999)
Schon zwei Jahre später, im Jahr 1999, kann ich den Teil »Chinesische Religion« des bereits öfter erwähnten Multimedia-Projekts
Weitere Kostenlose Bücher