Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
gesteckten Ziele messen lassen. Er bietet nicht nur allgemein formale, moralische Regeln oder Forderungen wie »Verantwortung« oder »Gemeinwohl«, sondern inhaltlich bestimmte Werte und ethische Standards. Kein Gesetz, das mit Sanktionen durchgesetzt werden soll, sondern ein Appell zur Selbstverpflichtung, der freilich den Sanktionen des Gewissens unterliegt! Dieser Appell richtet sich nicht nur an Wirtschaftsführer, Unternehmer und Investoren, sondern auch an Kreditgeber, Mitarbeiter, Kunden, Konsumenten und die jeweiligen Interessenverbände in allen Ländern der Welt. Damit richtet er sich auch an die politischen und staatlichen sowie internationalen Organisationen und Institutionen, die allesamt eine wesentliche Verantwortung für die Herausbildung und Umsetzung eines solchen globalen Wirtschaftsethos haben.
Besondere Verdienste um das Manifest haben sich zwei Wirtschaftswissenschaftler erworben: Prof. JOSEF WIELAND (Konstanz), der den ersten Entwurf des Textes verfasst und bei der Redaktion federführend ist, sowie Prof. KLAUS LEISINGER (Basel), Präsident der Novartis Stiftung. Ihm ist es zu verdanken, dass das Manifest samt Beiträgen von ihm, Wieland und mir in einem zweisprachigen (deutsch-englisch) Taschenbuch veröffentlicht wird. Der weltbekannte Ökonom JEFFREY SACHS steuert das Vorwort bei. 17 Bei seinem Besuch in Tübingen mit Familie am 8. 7. 2013 bestätigt er uns sein leidenschaftliches Engagement für ein Weltethos – doch damit bin ich dem geschichtlichen Ablauf weit vorausgeeilt: Von einer bedeutsamen ethischen Entwicklung ist zu berichten, die zusammen mit den Menschenrechten auch die oft vernachlässigten Menschenpflichten bedenken und realisieren will.
Menschliche Verantwortlichkeiten
Was im Buch »Projekt Weltethos« (1990) nur allgemein bejaht wurde, wird von mir in »Weltethos für Weltpolitik und Weltwirtschaft« (1997) gründlich reflektiert: der Zusammenhang zwischen Menschenrechten und Menschenpflichten. Für mich folgt daraus: Die Menschenrechtserklärung sollte von einer Menschenpflichten-Erklärung unterstützt und untermauert werden, ist doch die menschliche Person immer zugleich Trägerin von Rechten und Pflichten. Keine Rechte ohne Pflichten! Schon in der Menschenrechtsdebatte des französischen Revolutionsparlaments von 1789, so fiel mir auf, war die Forderung erhoben worden: Wenn man eine Deklaration der Rechte des Menschen proklamiere, müsse man damit auch eine Deklaration der Pflichten des Menschen verbinden. Sonst hätten am Ende alle Menschen nur Rechte, die sie gegeneinander ausspielen würden, aber niemand würde mehr die Pflichten erkennen, ohne welche die Inanspruchnahme der Rechte nicht funktionieren könne. In der Tat bedarf es doch zur effektiven Realisierung der Menschenrechte des ethischen Impulses und der normativen Motivation.
Ich bin mir durchaus bewusst, dass der Begriff Pflichten in seiner jüngeren Geschichte schändlich missbraucht worden ist. Von totalitären, autoritären, hierarchischen Ideologien aller Art war stets die Pflicht (gegenüber Vorgesetzten, dem Führer, dem Volk, der Partei, auch dem Papst) eingehämmert worden. Von daher lassen sich Angstprojektionen verstehen, die zu einer sprachlichen Tabuisierung des Wortes »Pflicht« geführt haben. Aber ich war und bin der Meinung, dass uns Missbräuche nicht hindern sollten, den Begriff positiv aufzunehmen, der seit dem römischen Staatsmann und Philosophen CICERO und dem Stadtpräfekten und späteren Bischof von Mailand AMBROSIUS eine 2000-jährige Geschichte hat, durch KANT zu einem Schlüsselbegriff der Moderne wurde und auch heute unersetzlich erscheint. Nicht nur Pflichten, auch Rechte lassen sich missbrauchen.
Wenig beachtet wird in der Menschenrechtsdebatte: Alle Rechte implizieren Pflichten, aber nicht alle Pflichten folgen aus Rechten . Es gibt auch eigenständige ethische Pflichten, die direkt in der Würde der menschlichen Person gründen. Der andere mag kein Recht auf die Wahrheit haben, aber ich bin zu Wahrhaftigkeit verpflichtet. Schon früh in der theoretischen Debatte hierüber wurden zwei Pflichtentypen unterschieden: Pflichten im engeren Sinn, eben rechtliche Pflichten, und andererseits Pflichten im weiteren Sinn, eben ethische Pflichten – wie Gewissens-, Liebes- und Humanitätspflichten.
Allerdings haben die Deutschen nicht das Glück der Englischsprachigen, die für Pflichten drei unterschiedlich akzentuierte Begriffe besitzen: »duties«, »obligations«,
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