Erlöst mich: Thriller (German Edition)
stand bei den falschen Leuten in der Kreide.
»Okay«, sagte ich und stand auf. Ich wusste, ich würde zu einer weiteren Reise aufbrechen, die einen weiteren hässlichen Fleck auf meinem bereits blutbefleckten Gewissen hinterlassen würde.
Doch hätte ich auch nur die leiseste Ahnung gehabt, in welches abscheuliche Herz der Finsternis mich diese Reise führen würde, wäre ich ohne zu zögern ins nächste Flugzeug nach Hause gesprungen, selbst wenn dies bedeutet hätte, dass ich den Rest meiner Tage im Gefängnis verbringen müsste.
2
Ihre Gesichter wirkten kalt und trotzig. Trotzdem wusste sie, dass sie innerlich zitterten. Immerhin waren sie fast noch Kinder – der eine war gerade achtzehn geworden, die beiden anderen waren siebzehn, und der Vorsteher der Jury hatte ihre Schuld bereits vor vierundzwanzig Stunden verkündet. Entsprechend der englischen Gesetzgebung gab es für Mord nur eine Strafe – lebenslänglich. Nun ging es eigentlich nur noch darum, dass die Richterin das Mindeststrafmaß verkündete, und alle in dem überfüllten Gerichtssaal wussten, dass sie nicht nachsichtig sein würde. Dafür waren die Umstände zu gravierend. Das Opfer, Michael Fremi, war erst sechzehn und ein vielversprechender Schüler gewesen und hätte sein herausragendes, mit Bestnoten gespicktes Mittlere-Reife-Zeugnis feiern sollen, das ihm den Weg zur Hochschulreife geebnet hätte. Bedauerlicherweise sollte Michael nie erfahren, wie gut er abgeschnitten hatte, denn eines Freitagabends im August hatten ihm die drei Angeklagten in der Nähe seines Hauses aufgelauert, als er von einem Freund zurückkehrte. Offenbar hatte er in der Woche zuvor verhindert, dass einer der drei – Karl Brayer – seinem Freund ein Handy entwendete, und dies war nun die Rache der Gang. Während der kurzen, aber extrem gewalttätigen Attacke, die nach Zeugenaussagen
nur wenige Sekunden gedauert hatte, hatten die Angreifer mit drei Messern sechzehn Mal auf ihn eingestochen. Einer der Stiche war ins Herz gedrungen, ein anderer hatte die Hauptschlagader durchtrennt. Zu keinem Zeitpunkt bestanden Zweifel daran, dass sie beabsichtigt hatten, ihn zu töten.
DI Tina Boyd vom Camden Murder Investigation Team oder CMIT, wie es kurz genannt wurde, hatte an jenem Abend Dienst gehabt und war als Erste am Tatort gewesen. Eine Szene, an die sie sich besonders eindringlich erinnerte, war der Anblick von Michaels Mutter, die ihren toten Sohn in den Armen wiegte und nicht loslassen konnte. Er hatte die Augen geschlossen und einen friedlichen, fast engelhaften Ausdruck auf seinem jungen Gesicht. Und das Blut. Auch das konnte sie nicht vergessen. Er hatte so stark geblutet, dass es noch in den Rinnstein lief, als sie eintraf.
Die Mörder wurden schnell gefasst. In Fällen wie diesen war das nie ein Problem, weshalb Tina sich fragte, warum um alles in der Welt die Kids solche Verbrechen überhaupt begingen. Ihnen musste doch klar sein, dass sie festgenommen, vor Gericht gestellt und verurteilt würden. War ihr Leben tatsächlich so sinnentleert? Leider wusste Tina auch, dass die Antwort »Ja« lautete, und während sie nun aufstand, um das Urteil zu erwarten, spürte sie keine große Befriedigung, obwohl ein Schuldspruch die Bestätigung der guten Arbeit war, die ihr Team geleistet hatte.
Dann ergriff die Richterin das Wort, eine mittelalte Frau mit hochfahrendem Gesichtsausdruck, die mit Perücke und Robe schlicht lächerlich wirkte, und im Saal wurde es bleiern still.
Als die Richterin die Vorsätzlichkeit der Tat und die
pure Bösartigkeit der Täter schilderte, schaltete Tina innerlich ab. Sie hatte das alles schon zu oft gehört, und jedes Mal klangen die Worte künstlich, weil alles, was die Richter sagten, vom Urteil der Jury abhing. Hätte die auf Notwehr entschieden, würde die Richterin nach Worten der Entschuldigung für die drei Angeklagten suchen und ihnen mitteilen, sie dürften den Gerichtssaal als freie Männer verlassen.
Das war einer der größten Vorbehalte, die Tina gegenüber der britischen Justiz hegte: Egal wie lückenlos die Beweiskette war, die sie und ihre Kollegen gegen die Angeklagten vorbrachten, es kam immer auf den Spruch von zwölf Angehörigen der Öffentlichkeit an, die oft über keinerlei Kenntnisse der Rechtslage verfügten.
Als die Richterin Brayers Strafmaß verkündete, erscholl im Zuschauerraum hinter Tina lauter Jubel. Er bekam siebzehn Jahre, das hieß, er wäre fünfunddreißig, wenn erstmals über seine
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